Frieder Otto Wolf

Frieder Otto Wolf Foto: Thomas Hummitzsch Quelle: wikimedia (CC-by-sa 3.0/de)

Frieder Otto Wolf: Wer sind heute die Humanistinnen und Humanisten? Und können wir abschätzen, wie viele wir sind?

Exklusivstellungnahme des Präsidenten des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), Frieder Otto Wolf, zur Bedeutung des Humanismus in Deutschland heute und seine politische Berücksichtigung als Weltanschauungsgemeinschaft. Eine Erwiderung auf Winfried Kretschmann.

In einer Rede am 18.10.2013 hat Winfried Kretschmann seine bereits wiederholt vorgetragene Auffassung bekräftigt, indem er das bisherige Staat-Kirche-Verhältnis in Deutschland als „bewährt“ bezeichnet hat, welches er „fortentwickeln“ möchte, wobei er lediglich einige kleine Reformen für notwendig hält. Sein zentrales Bekenntnis: „Sollte es also eine zunehmende Religionsvergessenheit geben, wäre es umso dringlicher, dass der Staat die Religionsgemeinschaften fördert, damit sie in unserer Gesellschaft den … „Sinn für den Sinn“ wachhalten.“ Insoweit folgerichtig sollen Religionsgemeinschaften vor allem finanziell und institutionell gefördert werden, auch wenn sie eben nicht sinn- stiftend für die Gesellschaft sind und ihre gesellschaftliche Prägekraft im rapiden Sinken ist. Ausschließlich christliche Religionsgemeinschaften und die Muslime hat Kretschmann (möglicherweise aus wahltaktischen Gründen) als Partner im Visier. Da geht es ihm um islamischen Religionsunterricht und um die Gründung muslimischer Wohlfahrtsverbände.
Winfried Kretschmann fordert lediglich einseitig und unkritisch „Teilhabe aller Religionsgemeinschaften“, und blendet alles Andere, etwa Weltanschauungsgemeinschaften und deren Wirken in der Gesellschaft, aus. Diese sind für ihn bedeutungslos, ebenso wie die große Masse der Konfessionsfreien und werden nicht einmal in Nebensätzen in seinen Ausführungen erwähnt.

Hierauf antwortet ihm Frieder Otto Wolf (Mitglied von Bündnis 90 / DIE GRÜNEN und Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD)) mit Ausführungen zum aktuellen Humanismus in Deutschland und dessen Bedeutung in einer Exklusivstellungnahme für den Bundesweiten AK Säkulare Grüne.

Wir veröffentlichen im Folgenden diese Stellungnahme und bedanken uns bei Frieder Otto Wolf.

Walter Otte

Im Anschluss an die Stellungnahme ist auf die oben erwähnte Rede von W. Kretschmann verlinkt.

 

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Frieder Otto Wolf
Foto: Thomas Hummitzsch

Wer sind heute die Humanistinnen und Humanisten?
Und können wir abschätzen, wie viele wir sind?

Frieder Otto Wolf

Von dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann wird die Aussage kolportiert, die Humanistinnen und Humanisten seines Bundeslandes würden alle in eine kleine Dorfkirche passen bzw. dass der Verband der Humanisten in Baden-Württemberg noch nicht mal annähernd so viele Mitglieder im Land habe wie es Katholiken in seinem Heimatdorf gibt.

Auch wenn unsere etwa 1.300 Mitglieder in Baden-Württemberg doch wohl eher eine große Stadtkirche füllen würden, hatte er uns damit einen wichtigen Hinweis gegeben: Wir müssen uns darüber klar werden, dass unsere Organisation des praktischen, modernen Humanismus ihre gesellschaftliche Bedeutung quantitativ auch auf andere Weise ermessen kann, als dies für die alten Großkirchen gilt.

Das beginnt damit, dass es bei uns keine Entsprechung zur Kirchen-Mitgliedschaft durch Taufe gibt. Die von den meisten unserer Landesverbände angebotene Namens- oder Lebensfeier ist eben das, was der Begriff besagt: eine Feier des Akts der Namensgebung durch die Eltern und als solche eine Feier zur Begrüßung des neugeborenen Kindes in der Familie und dem Freundeskreis der Eltern. Und nicht als solche die Aufnahme in eine humanistische Gemeinschaft. Mitgliedschaft im HVD beruht grundsätzlich auf einem freiwilligen Akt religionsmündiger Menschen – wo Eltern durch Familienmitgliedschaften ihre Kinder „in den Verband mitnehmen“, erfolgt dies im klaren Bewusstsein einer unter Vorbehalt späterer Entscheidungen stehenden Einführung in die Gemeinschaft und die Tradition, in welcher die Eltern stehen. Die Zahl der Mitglieder ergibt also keinen tauglichen Vergleichsmaßstab.

Ebenso falsch wäre es jedoch, die gesellschaftliche Bedeutung des HVD direkt an der Zahl bzw. an dem Prozentsatz der Konfessionsfreien zu messen. Denn das unterschätzt zum einen diese Bedeutung – denn auch relevante Gruppen von den christlichen Konfessionen, islamischen Richtungen oder anderen religiösen Auffassungen und Gemeinschaften anhängenden Menschen sind nicht nur auf ein humanes und humanisierendes Denkens und Handelns ausgerichtet; sie teilen auch – wie Meinungsumfragen lehren – zentrale Elemente einer modernen humanistischen Auffassung von der Welt und vom Leben.

Zum anderen aber überschätzt dies unsere gegenwärtige gesellschaftliche Bedeutung: Denn ebenso wie unter denjenigen, die aufgrund von Taufe oder Geburt zu einer religiösen Weltanschauungsgemeinschaft gerechnet werden, viele sind, die es nicht schaffen oder auch nicht wollen, sich überhaupt Gedanken darüber zu machen, welchen Prinzipien sie in ihrer Lebensführung folgen wollen, und die keine übergreifende Anschauung entwickeln, unter der sie ihr Leben führen und darin Sinn finden bzw. für andere artikulieren, gibt es auch unter den Konfessionsfreien selbstverständlich sehr viele, die überlastet, gleichgültig und desorientiert sind bzw. sich immer nur in einzelnen Situationen ad hoc entscheiden. Die im späten 19. und im frühen 20. Jahrhunderts verbreitete Auffassung, jede und jeder hätte doch immer schon eine Weltanschauung, ist empirisch einfach nicht mehr haltbar.

Eine moderne, auf humaner und humanisierender Praxis begründete humanistische Weltanschauung – die Bertolt Brechts Warnung vor „allzu vollständigen Weltbildern“ ernst nimmt – bezieht in einem Übergangsprozess ihre Positionen, der noch längst nicht abgeschlossen ist: dem Übergangsprozess von vormodernen, durch persönliche, traditional vermittelte Verhältnisse geprägten Zustand von Gesellschaft und Kultur zu einer modernen Zustand, in dem auch die Weltanschauungen den Anforderungen genügen müssen, den sachlich vermittelte, zumindest formal freiwillige und durch ihre Träger grundsätzlich bewusst konstituierte Verhältnisse an das menschliche Denken und Handeln stellen.

Die Gleichsetzung dieser Modernität mit der Verabschiedung alles Religiösen – wie der Positivismus propagiert hat – oder mit dem Abschied von jeglicher Weltanschauung – wie es ein technokratische Szientismus immer noch propagiert – ist im 20. Jahrhundert offensichtlich fragwürdig geworden:

Es gibt inzwischen Formen von Religiosität, welche den Anforderungen der Moderne bewusst gerecht werden – und es gibt auch Formen nichtreligiösen Denkens und Handelns, welche etwa durch Dogmatismus und sektiererischen Eifer hinter elementarste Forderungen der Modernität weit zurückfallen. Die modernen Formen der Religiosität treten dabei nicht minder dafür ein, die tragische Verstrickung von „Thron und Altar“ aufzulösen, wie sie in Europa in unvollendeten Formen der Trennung von Staat und Kirche immer noch fortwirkt. Das haben vor einiger Zeit in Berlin die Gruppe der „Christen für Ethik“ angesichts eines Versuchs der protestantischen Kirchenleitung, die staatliche Autorität als Missionierungshilfe einzusetzen, deutlich demonstriert.

Das hebt die spezifische Differenz nicht auf, durch welche sich ein moderner praktischer Humanismus auch von den modernen Formen der Religiosität unterscheidet: Während für diese als Religionen immer noch eine Unterwerfung unter eine Offenbarung, höhere Wesen, eine eigentlichere Wirklichkeit konstitutiv bleibt, auch nachdem sie ihre traditionellen autoritären Formen dieser Unterwerfung überwunden haben, verweist der moderne praktische Humanismus auf nichts weiter, als auf die Möglichkeit, in humaner und humanisierender Praxis individuell und gemeinschaftlich Sinn zu finden und dies auch, bei den entsprechenden Anlässen, öffentlich darzustellen und gemeinschaftlich zu feiern.

Damit konstituiert sich dieser Humanismus nicht nur durch den Rückbezug auf Traditionslinien, die bis auf die Anfänge aller Hochkulturen zurückreichen. Er hat sich auch parallel mit der Durchsetzung moderner gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse neu entfaltet. Und er hat sich – wie überhaupt das Denken und die Kultur der Moderne – seit deren existenzielle Krise in den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts reflexiv und selbstkritisch erneuern müssen. Humanismus als eine radikale gegenwärtige Welt- anschauung lässt sich daher nicht als eine bloße Fortsetzung der älteren Humanismen begreifen, in denen etwa Elite-Gedanken oder biologistische Vorstellungen von Menschenzucht ein Gewicht entfaltet haben, das mit den Prinzipien der Selbst- bestimmung aller Menschen und der Achtung vor humaner Pluralität unvereinbar ist.

Ebenso wie der moderner Humanismus in der öffentlichen Debatte die vormodernen Überbleibsel kritisiert, welche immer noch viele Kirchen und Religionsgemeinschaften übermäßig prägen, muss er auch nichtreligiöse und auch humanistische Traditions- zusammenhänge kritisch aufarbeiten, die mit den zentralen Anforderungen einer Praxis und Politik von Humanität und Humanisierung unvereinbar sind.

Unsere Weltanschauungsgemeinschaft hat Vorgänger die schon 1849 einen ersten Kindergarten gegründet, sowie Armenfürsorge und Krankenpflege betrieben haben, bis in die 60er Jahre, vor allem in der Weimarer Zeit, gab es auch ein Schulfach – aber diese Linie ist nach und wegen der Hitlerei abgebrochen und musste neu entfaltet werden. In unserer heutigen Form haben wir uns erst in den letzten 50 Jahren überhaupt kontinuierlich hat entwickeln können. Daher steht der humanistische Verband in der Entfaltung seiner gesellschaftlichen Bedeutung erst noch am Anfang. Daher kann diese erst auf der Grundlage der Erfahrungen an den wenigen Orten abgeschätzt werden, an denen in den letzten Jahrzehnten wirklich eine Organisation aufgebaut werden konnte, die gesellschaftlich wahrnehmbare weltanschauliche Angebote macht, also etwa in Berlin oder in Nürnberg.

Dabei wird deutlich, dass zur quantitativen Abschätzung dieser Bedeutung andere Kategorien gebildet werden müssen, als sie für die Abschätzung der gesellschaftlichen Rolle der Großkirchen üblich sind.

Ganz grob betrachtet, sind hier vor allem vier Kategorien zu erkennen:

die aktiven Träger und Trägerinnen (aktive Mitglieder und Beschäftigte), sowie die ausdrücklichen Förderer (passive Mitglieder und Sponsorinnen bzw. Sponsoren);

die Unterstützer (bewusste Nutzer und „Fans“), sowie die Kunden (Käufer von weltanschaulichen Angeboten auf unterschiedlichen Märkten);

die „Sympathisanten“ (die etwa bei Meinungsumfragen ihre Billigung und Unterstützung gegenüber organisierter humanistischer Praxis erklären);

die partiell Gleichgesinnten (die etwa bei Meinungsumfragen ihre Übereinstimmung mit einigen zentralen Prinzipien des modernen Humanismus erklären).

Diese Unterscheidungen lassen sich nur dort sinnvoll anwenden, wo tatsächlich ein entwickeltes Angebot des HVD existiert und auch öffentlich vermittelt werden kann. Ich denke allerdings, dass es durchaus realistisch ist, zu unterstellen, dass an anderen Orten potentiell dieselben Kategorien von einem entsprechenden Angebot erreicht werden können.

Gegenwärtig sind wir noch nicht in der Lage, diese Kategorien wirklich verlässlich quantitativ innerhalb der Gesellschaft zu bestimmen. Allerdings lässt sich wohl durchaus belastbar sagen, dass die ersten beiden Kategorien potentiell im einstelligen Prozent- bereich liegen, während die letzten beiden Kategorien jedenfalls einen zweistelligen Prozentsatz der bundesdeutschen Gesellschaft ausmachen, wo nicht die letzte Kategorie teilweise sogar eine gesellschaftliche Mehrheit erreicht. Als vorsichtige Schätzung lässt sich formulieren, dass überall dort, wo es entwickelte Angebote des HVD gibt, etwa mit dem zehn- bis zwanzigfachen an Unterstützern, mit dem fünfzigfachen an „Sym- pathisanten“ und etwa dem zweihundertfachen an partiell Gleichgesinnten gerechnet werden kann. In Berlin kommen heute etwa auf ca. 10.000 Mitglieder gegenwärtig ca. 200.000 Unterstützer – und es kann, mit ca. 500.000 Sympathisanten und mit etwa 1.000.000 partiell Gleichgesinnten gerechnet werden.

Dabei muss mensch sich klar machen, dass die Bezugsgröße die religionsmündige Bevölkerung ist (also alle Einwohner über 14) – und diese Kategorien nicht mit den von uns medial erreichten Menschen verwechseln. Auch bei medialen Erreichbarkeits- schätzungen wäre übrigens zu berücksichtigen, dass immer ein mehrfaches etwa der jeweils „verkauften Auflage“ direkt oder indirekt erreicht wird.

Winfried Kretschmann hat gewiss die gesellschaftliche Bedeutung des modernen Humanismus in seinem Ländle falsch eingeschätzt. Wir sind ihm immerhin zu Dank dafür verpflichtet, uns veranlasst zu haben, unsere Gedanken über die gesellschaftliche Verankerung unseres Humanismus in der bundesdeutschen Gesellschaft zu verdeutlichen und weiterzuentwickeln.

Rede von W.Kretschmann am 18.10.2013

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