Hintergrundpapier zur „Jungengenitalbeschneidung“

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Gislinde Nauy,

Dana Kühnau,

Mariana Pinzón Becht,

Walter Otte,

Victor Schiering

 

 

Inhalt

1. Vier grundsätzliche Punkte vorneweg
1.1 Was ist „Jungengenitalbeschneidung“?
1.2 Gesetzgeberische Fakten/Der aktuelle Stand unseres Rechtssystems
1.3 Fakten zur Beschneidungsstatistik in Deutschland
1.4 Sprachliche Dimension der Debatte

2. Die Diskussion um die weibliche Genitalbeschneidung und das Gleichheitsprinzip
2.1 § 1631d BGB steht im Widerspruch mit Art. 3 GG
2.2 Religiöse Gründe als Rechtfertigung für Ungleichbehandlung

3. Kritik an der Entstehung des § 1631d BGB
3.1 Das Kölner Urteil (7. Mai 2012)
3.2 Der Schnellschuss
3.3 Selektive Einbeziehung von Betroffenen
3.4 Der Umgang von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN mit der Beschneidungsdebatte

4. Inhaltliche Kritik am § 1631d BGB
4.1 Widersprüche mit dem Grundgesetz
4.2 Widerspruch mit der UN-Kinderrechtskonvention
4.3 Widerspruch mit dem Bericht der Grünen Kinderkommission (2006)

5. Internationale Lage zur Jungengenitalbeschneidung
5.1 Entwicklungen auf europäischer Ebene
5.2 Signale aus Deutschland auf den Rest der Welt

Fazit

In der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Deutschen Bundestags (26.6.2013) zur Schaffung eines eigenständigen Straftatbestands für die Verstümmelung der äußeren weiblichen Genitalien im Strafgesetzbuch (StGB) fügte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihrer Zustimmung zum schwarz-gelben Gesetzesentwurf Folgendes hinzu: „Vor dem Hintergrund der Debatte des letzten Jahres zur Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen müsse mit einer Diskussion darüber gerechnet werden, ob der Gesetzgeber mit den nun zu beschließenden Regelungen nicht Gleiches ungleich behandle. Bei dieser künftigen Debatte müsse herausgestellt werden, dass das, was bei einer weiblichen Genitalverstümmelung geschehe, nichts mit den Formen der Beschneidung von Jungen zu tun habe, wie sie bei Beachtung medizinischer Standards durch die neuen Regelungen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) nunmehr ausdrücklich erlaubt seien.“[1]

Zunächst ist festzuhalten, dass diese Aussagen von der Fraktion getroffen wurden, also nicht zwangsläufig die Meinung einzelner Fraktionsmitglieder oder der Partei widerspiegeln, denn eine inhaltliche Debatte oder Positionierung der Partei zu diesem Thema liegt bisher nicht vor. Die Säkularen Grünen treten für den Anstoß einer solchen ergebnisoffenen Debatte ein. Festlegungen über Verlauf und Ausgang einer Debatte, noch bevor diese überhaupt geführt wurde, widersprechen den basisdemokratischen Grundsätzen der Grünen. Im Folgenden nehmen wir daher Stellung zu dieser Aussage und formulieren eine eigene Position zur Thematik der (neuen) Gesetzeslage hinsichtlich medizinisch überflüssiger operativer Eingriffe an den Genitalien von Jungen, Mädchen und intersexuellen Kindern.

1. Vier grundsätzliche Punkte vorneweg

1.1 Was ist „Jungengenitalbeschneidung“?

Die sog. (Genital)Beschneidung von Jungen bzw. männlichen Säuglingen ist ein operativer Eingriff am Penis, der aus ästhetischen, religiösen, erzieherischen oder medizinischen Motiven heraus vorgenommen wird. Im Altertum u. a. als Initiationsritus der jüdischen Religion eingeführt, werden zur Begründung der Notwendigkeit dieses Eingriffs heute unterschiedliche Rechtfertigungsmotive vorgetragen.

Der Eingriff selbst variiert hierbei – abhängig vom geografischen und traditionellen Hintergrund – mitunter enorm. Belegt ist der Brauch bereits 2300 v. Chr. im Alten Ägypten [2], weswegen vermutet wird, dass er als kulturelle Praxis dort auch von Juden aufgegriffen worden sein könnte [3]. Eine andere Theorie besagt, dass die Vorhautbeschneidung im Judentum erst während des Babylonischen Exils (um 600 v. Chr.) eingeführt wurde [4]. Fest steht jedoch, dass anfangs lediglich die Spitze der Penisvorhaut entfernt wurde. Erst als es einigen Männern gelang, erfolgreiche Rekonstruktionsversuche durchzuführen, entschieden die Rabbiner, die Beschneidung „radikal“ auszuführen und begannen fortan die gesamte Penisvorhaut zu entfernen [5].
Die Puritaner in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts machten sich die bereits damals durch Beschneiden der Vorhaut bekannte Reduktion des sexuellen Empfindens zunutze und beschnitten die männlichen Kinder zur Zügelung des Sexualtriebs ebenso wie sie die Beschneidung und Verätzung (mit Säure) der Klitoris bei Mädchen (gegen Hysterie) noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein durchführten [6].

Während die Manipulation weiblicher Genitalien in den westlichen Ländern irgendwann verschwand, wurden – federführend von den USA – für die Jungengenitalbeschneidung weiterhin Argumente gesucht, sie weltweit noch immer in großem Ausmaß zu praktizieren. Dabei gibt es unterschiedliche Varianten, wie viel von der Vorhaut erhalten bleibt und ob das Vorhautbändchen (Frenulum) mit entfernt wird oder nicht.

In anderen Gebieten der Welt sehen Beschneidungsriten in der Praxis sehr unterschiedlich aus. Während die Luo (Kenia, Tansania) lediglich das Frenulum durchtrennen, wird den heranwachsenden Männern bei den Dowayos in Kamerum fast die gesamte Haut vom Penis entfernt, was zu einer teilweise extremen Deformierung des Penis im weiteren Wachstumsverlauf führt und nicht selten den Geschlechtsverkehr unmöglich macht. Bei den Aborigines in Australien wird die Jungengenitalbeschneidung in zwei Schritten durchgeführt: Zunächst wird die komplette Penisvorhaut entfernt, und sobald diese Wunde verheilt ist, wird die gesamte Harnröhre an der Unterseite des Penis aufgeschlitzt [7]. Auch viele dieser Praktiken werden im jeweiligen kulturellen Kontext religiös begründet.

Ebenso zahlreich und vielgestaltig wie die Formen der Beschneidung, fallen auch die gesundheitlichen Komplikationen und Folgen aus. Bei der Variante, die weltweit die gängigste ist, werden durchschnittlich 50 % der gesamten am Penis befindlichen Haut inkl. des aufgrund der epidermischen Struktur sensibelsten Teils des Penis entfernt. Damit verbunden ist die Trockenlegung des verbliebenen ursprünglichen Innengewebes (insbesondere die Eichelhaut, ggf. Reste des inneren Vorhautblattes), das darauf langfristig mit einer Verhornung der Haut reagiert. Eine Reduktion der sexuellen Empfindungsfähigkeit ist die zwangsläufige Konsequenz dieser Vorgänge [8]. Darüber hinaus können durch den Wundheilungsprozess Komplikationen bis hin zur Todesfolge entstehen. Die Sterberate ist dabei in jenen Ländern, in denen unter nicht-sterilen Umständen beschnitten wird, natürlich um einiges höher als etwa in Deutschland oder in den USA, wo Jungengenitalbeschneidungen in aller Regel im Krankenhaus und von Ärzten durchgeführt werden. Doch auch hier sterben Säuglinge und Kinder an den Folgen des Eingriffs [9].

1.2 Gesetzgeberische Fakten/Der aktuelle Stand unseres Rechtssystems

Aktuell liegen folgende Gesetze zur Regelung von Beschneidungen an den Genitalien Minderjähriger vor:

1. § 1631d Abs. 1 BGB: Legalisierung von männlicher Genitalbeschneidung in jedweder Form (es werden im Gesetzestext weder medizinisch-anatomische Details genannt noch Unterscheidungen bei den Eingriffstiefen und ihren Folgen getroffen – d.h. man legalisierte einen operativen Eingriff, ohne ihn konkret zu definieren).

2. § 1631d Abs. 2 BGB: Legalisierung von männlicher Genitalbeschneidung jedweder Form durch Nichtärzte (und damit zwangsläufig ohne Betäubung) für Jungen unter sechs Monaten.

3. § 226a StGB: eigener Straftatbestand für alle Formen weiblicher Genitalbeschneidung. Jungen wird gleicher Schutz explizit verweigert, indem behauptet wird, Jungen seien per se nicht von den beschriebenen Eingriffen betroffen.

4. Auch intersexuellen Kindern wird kein Schutz vor operativen Genitalverstümmelungen zur „Geschlechtsangleichung“ nach Elternwunsch gewährt, obwohl mittlerweile gut belegt ist, dass die meisten intersexuellen Menschen unter den Folgen dieser Eingriffe sehr leiden, ihrer sexuellen Selbstbestimmung beraubt wurden und ihr Sexualleben beeinträchtigt ist.

Zusammengefasst: Zugesagt wird der Schutz kindlicher Genitalien weiblichen Personen. Kinder die nach der Geburt von ärztlicher Seite nicht als weiblich zertifiziert werden, haben keinen gesetzlichen Schutz auf körperliche Unversehrtheit im genitalen Bereich.

1.3 Fakten zur Beschneidungsstatistik in Deutschland

Laut Aussagen des BVKJ (Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte) werden in Deutschland jährlich etwa 40.000 Jungengenitalbeschneidungen durchgeführt. Da die meisten dieser Eingriffe nach dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand medizinisch nicht notwendig wären, eine Beschneidung dem Krankenhaus bzw. der Arztpraxis jedoch zwischen 350 und 400 Euro einbringen, stellen sie eine nicht zu unterschätzende finanzielle Einnahmequelle dar. Dreiviertel dieser Beschneidungen werden ohne religiösen Hintergrund durchgeführt; die Zahl der jüdisch motivierten Beschneidungen liegt bei etwa 100 Fällen pro Jahr – fällt prozentual also fast nicht ins Gewicht.

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) hat mittels einer Umfrage unter den deutschen Kinder- und Jugendarztpraxen eine detaillierte und aktuelle Datenerhebung zu den unmittelbaren Operationskomplikationen der Jungengenitalbeschneidung vorgelegt, welche die Behauptung, der Eingriff sei komplikationslos, nachhaltig widerlegt [10].

1.4 Sprachliche Dimension der Debatte

In einer öffentlichen Diskussion ist die Wortwahl oft sehr bedeutend, denn durch semantische Konnotationen kann die Richtung einer Debatte stark beeinflusst werden. In der Debatte um die Vorhautamputation bei Jungen hat man sehr deutlich sehen können, wie um diese Wortwahl gerungen wurde. Während einige eher mit dem medizinisch, fast distanzierenden Begriff von „Zirkumzision“ arbeiteten, andere mit dem umgangssprachlichen und geläufigen Begriff „Beschneidung“, wurde zudem versucht, für diesen Eingriff den Begriff der „Genitalverstümmelung“ zu etablieren, wie er für die Manipulation der weiblichen Genitalien geläufig ist.

Mit solchen rhetorischen Mitteln kann man Diskussionen steuern und Meinungsbilder erzeugen.

Um dies zu vermeiden, plädieren wir dafür, für alle Eingriffe an Genitalien von „Genitalbeschneidungen“ zu sprechen.

2. Die Diskussion um die weibliche Genitalbeschneidung und das Gleichheitsprinzip

2.1 § 1631d BGB steht im Widerspruch mit Art. 3 GG

Das neue Gesetz, das der Beschneidung der Genitalien weiblicher Personen in Deutschland den Status des „Verbrechens“ gibt (§ 226a StGB), bestraft alle in der Praxis vorkommenden Formen der operativen Manipulation weiblicher Genitalien. Die radikalste und wohl bekannteste Form, Typ III, besteht in der Entfernung der Klitoris und der Schamlippen sowie dem Zunähen der Vulva. Dieser Typ betrifft laut Aussagen von Terre des Femmes etwa 15% aller von Beschneidung betroffenen Frauen. Die radikale Beschneidung der männlichen Geschlechtsteile meint die komplette Amputation der Penisvorhaut, in häufigen Fällen zusätzlich die Entfernung des Vorhautbändchens (Frenulum). Dies entspricht der Entfernung der Klitorisvorhaut bei der weiblichen Beschneidung (Typ Ia), anatomisch gesehen sogar zusätzlich einer Entfernung der inneren Labien.

Da das Abschneiden der Klitorisvorhaut sowie das Einritzen oder Anstechen derselben (ohne Verlust von Gewebe) mit § 226a StGB unter Strafe stehen, müssten nach Art. 3 GG sämtliche medizinisch nicht indizierte Eingriffe am männlichen Genital ebenso darunter fallen, denn auf der medizinisch-biologischen Ebene sind solche Eingriffe durchaus vergleichbar.

Wir möchten an dieser Stelle noch einmal betonen, dass § 226a StGB eine Errungenschaft darstellt, die unter keinen Umständen in ihrer Wichtigkeit und Richtigkeit in Frage zu stellen ist. Die Mädchengenitalbeschneidung stellt in patriarchalischen Gesellschaften ein Machtwerkzeug zur Unterdrückung der Sexualität von Mädchen und Frauen dar und darf deshalb in einer Gesellschaft, in der die Menschenrechte sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter gelten, in keiner Form auch nur ansatzweise je wieder geduldet werden. Das Patriarchat mit all seinen Gewaltspiralen endet jedoch nicht bei der Unterdrückung weiblicher Sexualität. Es setzt sich fort in der Unterdrückung des Schwächeren durch den Stärkeren und findet sich auch in der Beschneidung männlicher Kinder wieder. Inzwischen haben Frauenrechtsorganisationen dies auch klargestellt. Auf der Internetseite von TABU e.V. heißt es, man habe sich zunächst auf die Bekämpfung der Mädchenbeschneidung konzentriert, um wenigstens auf einem Gebiet erfolgreich zu sein und nicht von Anfang an auf der ganzen Linie zu scheitern. Inzwischen, so heißt es weiter, werde allerdings nur noch geschlechterübergreifend Aufklärung betrieben [11].

Grundsätzlich gilt also, dass ein operativer Eingriff an den Genitalien eines einwilligungsunfähigen Kindes – gleich welchen Geschlechts und ohne medizinische Notwendigkeit – weder vor den Menschenrechten noch vor der UN-Kinderrechtskonvention bestehen kann. Die Tiefe dieses Eingriffs und die physiologische Bewertung spielen dabei keine Rolle, da Grundrechte nicht teilbar sind und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit als Abwehrrecht sich auch gegen kleinste Eingriffe wendet. Die Forderung besteht im Anspruch des gleichen Rechts auf körperliche Unversehrtheit für jedes Kind – unabhängig von seinem Geschlecht.

2.2 Religiöse Gründe als Rechtfertigung für Ungleichbehandlung

In dem eingangs erwähnten seitens der Fraktion abgegebenen Statement ist von „religiösen Gründen“ bei der Jungengenitalbeschneidung die Rede. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass in § 1631d BGB religiöse Motive nicht erwähnt werden! Eltern haben seit dem 28.12.12 das Recht, ihren Söhnen die Vorhaut ohne Angabe von Gründen operativ entfernen zu lassen. Ein Gesetz, das Ausnahmen für eine bestimmte Gruppe auf Grund ihrer religiösen Orientierung macht, kann in einem säkularen Rechtsstaat nicht bestehen. Obwohl man versucht hat, dies zu umgehen, indem das Gesetz keine Angabe von Gründen durch die Eltern verlangt, zeigt die Stellungnahme der Fraktion, dass es doch primär darum ging, religiöse Praktiken zu schützen und zu ermöglichen. Beim Verbot der Genitalbeschneidung von Mädchen hingegen wurde die Frage der Beweggründe von Eltern und Erziehungsberechtigten nicht diskutiert [12].

Es zeigt sich, dass hier wieder mit zweierlei Maß gemessen wird, in dem man behauptet, das eine sei ein „barbarischer Akt“, der lediglich auf kulturelles Brauchtum zurückzuführen sei, während das andere konstitutiv für eine Religion und daher unantastbar sei. Das zeugt von einem verbreiteten Kulturimperialismus, der Rituale monotheistischer Buchreligionen höher bewertet als rituelle Praktiken, die im Kontext anderer Religionen ausgeübt werden [13]. In jedem Fall handelt es sich bei der Genitalbeschneidung jeweils um Riten aus Zeiten, in denen es weder Menschen- noch Kinderrechte gab und in denen intakte Genitalien nicht als relevant für die Gesundheit an Körper und Seele erachtet wurden.

Als Unterzeichner*innen dieses Papiers lehnen wir die Bevorzugung bzw. Diskriminierung aus Gründen des Glaubens oder der Religionszugehörigkeit ab. Daraus resultiert, dass religiöse Bräuche und Riten aller Glaubensgemeinschaften in gleicher Weise auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundgesetz bzw. den Menschenrechten geprüft werden müssen, – insbesondere dann, wenn sie Kinder betreffen und unumkehrbare lebenslängliche Folgen nach sich ziehen. Eine unterschiedliche Behandlung von Kindern aufgrund der religiösen Orientierung ihrer Eltern ist für uns daher nicht hinzunehmen.

3. Kritik an der Entstehung des § 1631d BGB

3.1 Das Kölner Urteil (7. Mai 2012)

Am 7. Mai 2012 wertete das Kölner Landgericht die nicht medizinisch indizierte Genitalbeschneidung minderjähriger Jungen als rechtswidrige Körperverletzung. Die medizinisch nicht notwendige Genitalbeschneidung von Jungen, die bis zu diesem Tag in Deutschland so gut wie nie infrage gestellt worden war, wurde daraufhin zum Thema im Bundestag, in den Medien und in der Gesellschaft, nachdem diese Frage in juristischen und fachärztlichen Kreisen schon seit mehreren Jahren diskutiert worden war.

3.2 Der Schnellschuss

Die durch das Kölner Urteil entstandene Rechtsunsicherheit sollte mittels eines Gesetzes aus der Welt geschafft werden – und zwar so schnell wie möglich. Eine fraktionsübergreifende Resolution an die Bundesregierung zur Genitalbeschneidung sollte während der Parlamentarischen Sommerpause verabschiedet werden. „Tenor dieser Aufforderung an die Bundesregierung und der kompletten politischen Debatte war folgender: Da durch das Landgericht Köln ein rechtlicher Widerspruch aufgedeckt worden sei, müsse man das Recht so gestalten, dass jüdisches Leben in Deutschland möglich bleiben muss.“ [14] Deshalb sollte mit diesem Gesetz sichergestellt werden, „dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist.“ [15] Damit war ein ergebnisoffener, an Fakten orientierter Diskurs von vorneherein ausgeschlossen.

Und dieser Intention entsprach die weitere Vorgehensweise: Der bis dato nicht bzw. schlecht über die physischen und psychischen Folgen der Jungengenitalbeschneidung informierten Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten wurde keine Gelegenheit eingeräumt, sich umfassend zu informieren. Zum einen wurde größter Wert darauf gelegt, eine Diskussion aus rein zeitlichen Gründen gar nicht erst zustande kommen zu lassen (zwischen dem Kölner Urteil und der Abstimmung über § 1631d BGB lagen gerade einmal sieben Monate), zum anderen wurde bei diversen Expertenanhörungen stets darauf geachtet, beschneidungskritische Stimmen seltener zu Wort kommen zu lassen. [16]

Und so stimmten am 12.12.12 dem Regierungsentwurf 434 von 580 anwesenden Abgeordneten zu.

3.3 Selektive Einbeziehung von Betroffenen

Gerne werden zum Thema Jungengenitalbeschneidung beschnittene Männer zitiert, die glücklich und zufrieden ihr Leben leben und sich in ihrer sexuellen Selbstbestimmung nicht beeinträchtigt fühlen [17]. Erstaunlicherweise war aus der Grünen-Spitze mehrfach zu vernehmen, negativ betroffene beschnittene Männer gäbe es entweder gar nicht oder in nicht ausreichendem Ausmaß [18] – und damit diese negativ betroffenen Männer auch gar nicht erst ins Bewusstsein gelangen konnten, wurde im Verein mit der schwarz-gelben Bundesregierung u.a. verhindert, dass eben solche Männer im Rechtsausschuss Rederecht erhielten.

Ob die Meinung von positiv oder negativ von ihrer Genitalbeschneidung betroffenen Frauen im Gesetzesverfahren für §226a StGB irgendeine Bedeutung gehabt hätte, ist uns hingegen nicht bekannt.

3.4 Der Umgang von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN mit der Beschneidungsdebatte

Anstatt das Signal des Kölner Urteils als Stärkung für die Rechte des Kindes gemäß dem Grünen Grundsatzprogramm und auch dem Grünen Kinderprogramm zu begrüßen und als Impuls für einen offenen Diskurs auf menschenrechtlicher, medizinischer, psychologischer und juristischer Basis aufzunehmen, wurde es von nahezu der gesamten Parteispitze, ohne auch nur den Versuch einer Absprache mit der Basis zu unternehmen, sofort politisch bekämpft. Selbst bei der Gesetzgebung zur Mädchengenitalbeschneidung wurde es nicht unterlassen, sich gegen eine ergebnisoffene Debatte zur Jungengenitalbeschneidung auszusprechen, wie oben stehendes Zitat verdeutlicht.

Wir sind der Ansicht, dass uns als Partei der Menschenrechte damit ein großer politischer Schaden und ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem entstanden ist. Wo, wenn nicht bei uns Grünen soll diese Debatte geführt werden? Als Partei der Menschenrechte, aber ebenso als Partei einer multikulturellen und multireligiösen, offenen und freien sowie klar antirassistischen und antisexistischen Gesellschaft stehen wir Grüne hier in besonderer Verantwortung.

4. Inhaltliche Kritik am § 1631 d BGB

4.1 Widersprüche mit dem Grundgesetz [19]

Bei Betrachtung der einzelnen Grundrechte von Kindern und Eltern, die in der Beschneidungsdebatte immer wieder genannt wurden, zeigt sich, dass § 1631d BGB in mehreren Punkten verfassungswidrig ist.

Zunächst hat der Staat grundsätzlich eine Schutzpflicht gegenüber dem unmündigen Kind, dessen Eltern bzw. Erziehungsberechtigten das Recht und die Pflicht auf Pflege und Erziehung des Kindes obliegen. Mit einem Wächteramt versehen ist der Staat daher dazu verpflichtet, bei kindeswohlgefährdenden Akten seitens der Eltern Maßnahmen zu ergreifen und einzuschreiten. Durch die explizite gesetzliche Erlaubnis einer medizinisch nicht notwendigen Genitalbeschneidung von Kindern verletzt der Staat diese Schutzpflicht gegenüber dem Kind.
Auf Seiten des Jungen sind folgende Grundrechte massiv betroffen:

a) Persönlichkeitsrecht des Kindes Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Art. 1 Abs. 1 GG: Da es sich bei der Penisvorhaut um einen funktionalen Körperteil handelt, der für das sexuelle Empfinden von Bedeutung ist, wird durch die Vorhautentfernung lebenslang – irreversibel – in das sexuelle Empfinden des Mannes eingegriffen und sein sexuelles Erleben beeinflusst. Entscheidungen über den Intimbereich gehören jedoch zum sog. „Unverfügbaren“, d.h. es darf ausschließlich die betroffene Person selbst darüber entscheiden. Eine Stellvertretung durch Eltern den Intimbereich betreffend scheidet daher von vornherein aus und drückt, wenn sie denn vorgenommen wird, nur eine Missachtung der Persönlichkeit des Kindes aus.

b) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG.

c) Das Recht auf negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG): Die negative Religionsfreiheit ist betroffen, weil der beschnittene Mann lebenslang mit einem religiösen Identifikationsmerkmal versehen ist. Auch die Religionsfreiheit der religiös orientierten Eltern bzw. Erziehungsberechtigten schließt als ein „Freiheitsrecht“ nicht das Recht ein, den Körper anderer Personen zu verletzen, insbesondere nicht irreversibel und im Bereich der Intimsphäre.

Diese Grundrechte des Kindes haben auch die Eltern, denen das Grundrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder zusteht, zu beachten. Die Kinder sind den elterlichen Wünschen nicht vollständig ausgeliefert. Freiheitsrechte der Eltern in Bezug auf Kindeserziehung und Religionsausübung richten sich gegen den Staat, rechtfertigen aber nicht Eingriffe in die Grundrechte anderer, etwa der eigenen Kinder auf körperliche Unversehrtheit und Religionsfreiheit.

Von nicht unerheblicher Bedeutung gerade im Lichte des vollständigen Verbots der weiblichen Genitalbeschneidung und der umfassenden Strafbarkeit durch den neugefassten § 226a StGB ist die eklatante Verletzung des Gleichheitsgebots aus Artikel 3 Abs.1 GG („Niemand darf aufgrund seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden”). Er zeigte den Widerspruch in der geltenden Gesetzeslage zwischen den Paragrafen 226a StGB und 1631d BGB auf, wonach selbst leichte Eingriffe bei Mädchen (etwa das Anritzen der äußeren Schamlippen) als Verbrechen verfolgt werden, während der viel weiter gehende Eingriff der vollständigen Entfernung der Penisvorhaut bei Jungen zur freien Disposition der Eltern steht und den betroffenen Jungen ohne jeden Schutz lässt.

Abschließend sei betont, dass die hier aufgeführten Verletzungen der Rechte des Kindes sich lediglich auf diejenigen körperlichen Folgen beziehen, die sich als notwendige Konsequenz aus jeder Vorhautentfernung ergeben. Als weitere mögliche Konsequenzen seien Operationsschmerzen, Wundheilungsschmerzen, Gefährdung von Gesundheit und Leben des Kindes [20], psychische Traumatisierungen, Beeinträchtigung des Sexuallebens sowie Probleme in der Partnerschaft, genannt. Nicht vergessen darf man, dass es auch Fälle in Europa gibt, bei denen Kinder an den Folgen einer Genitalbeschneidung gestorben sind. Jeder operative Eingriff ist ein Risiko.

4.2 Widerspruch mit der UN-Kinderrechtskonvention

Es ist nicht das Grundgesetz allein, das mit § 1631d BGB nicht in Einklang zu bringen ist. Mit der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention 1990 (in Kraft getreten 1992) hat Deutschland sich dazu verpflichtet, die Rechte des Kindes über alle anderen Rechte (auch die von Eltern und Religionsgemeinschaften) zu stellen. Gerade auf die Frage nach der Erlaubnis oder dem Verbot von rituellen Genitalbeschneidungen an Kindern gibt Art. 24 (3) eine klare Antwort, die § 1631d BGB unmissverständlich als gegen die UN-Konvention gerichtet entlarven muss: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“ Beim Gedanken an die jährlich bekannt werdenden Genitalbeschneidungen mit tödlicher Folge könnte auch noch der vorangestellte Absatz 2 in die Überlegungen mit einbezogen werden „Die Vertragsstaaten bemühen sich, die volle Verwirklichung dieses Rechts sicherzustellen, und treffen insbesondere geeignete Maßnahmen, um a) die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu verringern“. Zur möglichen Kollision mehrerer Interessen sagt die UN-Kinderrechtscharta: Art. 3 [Wohl des Kindes]: (1) „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

4.3 Widerspruch mit dem Bericht der Grünen Kinderkommission (2006)

Ähnlich wie es in der UN-Kinderrechtscharta steht, hat es auch die Kinderkommission von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2006 in ihrem Bericht formuliert: „BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen eine Politik, die das Wohl und die Rechte der Kinder in den Mittelpunkt stellt und nicht die Rolle, die Kinder als zu erziehendes Objekt und Garant für die Funktionsfähigkeit der Sozialsysteme heute oder in ihrer Zukunft spielen sollen.“ (S. 3) Die Stellungnahmen zahlreicher Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der „Beschneidungsdebatte“, die immer wieder von einer schwierigen Abwägung zwischen Kinder- und Elternrecht sprachen, haben mit den 2012 getätigten Aussagen ihrer Stellungnahme von 2006 widersprochen, die da lauteten: „Ein Perspektivenwechsel zu einer kindzentrierten Politik ist ein bedeutender Schritt hin zu einer konsequenten Anwendung von Bürger*innenrechten. Das so genannte Kindeswohl definiert sich heute allzu oft aus der Sicht der Erwachsenen. Auch im Rechtssystem ist ein Perspektivenwechsel hin zu einer stärkeren Rechtsposition von Kindern überfällig.“ Dieser Erklärung widerspricht §1631d BGB vollständig. „Die UN-Kinderrechtskonvention verbrieft das Recht jedes Kindes auf ‚das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit‘.“ (S. 6) heißt es weiter. Die Legalisierung gesundheitsgefährdender Bräuche ist damit unvereinbar.

Die Forderung, die u.a. formuliert wird, klingt angesichts § 1631d BGB wie blanker Hohn: „Wir wollen den Artikel 6 Abs. 2 GG (Elternrecht) durch folgende Formulierung ergänzen: ‚Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und den Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Staat und Gesellschaft achten und sichern ihre Rechte, tragen für altersgerechte Lebensbedingungen Sorge und fördern sie nach ihren Anlagen und Fähigkeiten:’“ (S. 31) Die Einschränkung der sexuellen Empfindsamkeit durch Genitalreduktionen als ein Opfer für ein Kollektiv, in das ein Kind zufällig hineingeboren wird, widerspricht diesem Selbstbestimmungsrecht. Schließlich ist zum vom Kollektiv bestimmten Zeitpunkt des Eingriffs nicht klar, ob der Junge je dauerhaft in der Tradition leben will, die ihm dieses irreversible Opfer abverlangt. Und schließlich haben wir uns immer für gewaltfreie Erziehung eingesetzt, operative Eingriffe ohne Betäubung verursachen aber nicht mit Erziehungswünschen zu rechtfertigende Schmerzen: Wir fordern, dass sich unsere Partei an die 2006 unterschriebenen Aussagen erinnert und sie in die Tat umsetzt.

5. Internationale Lage zur Jungengenitalbeschneidung

5.1 Entwicklungen auf europäischer Ebene

Vorreiter beim Anstoß zum Umdenken hinsichtlich der Jungengenitalbeschneidung sind in Europa vor allem die nordischen Länder: In Finnland forderte die Justizministerin im Frühjahr 2012 strengere Voraussetzungen für Genitalbeschneidungen. In Norwegen wurde nach dem Tod eines Säuglings im Mai 2012 aufgrund einer religiösen Genitalbeschneidung die Diskussion über ein Verbot angestoßen, in Dänemark ist die Jungengenitalbeschneidung seit 2005 nur nach Aufklärung und durch einen Arzt oder in dessen Anwesenheit erlaubt und in Schweden ist für eine rituelle Genitalbeschneidung die Bewilligung durch das Gesundheitsministerium erforderlich.

Im Herbst 2013 forderte die norwegische Kinderbeauftragte Anne Lindboe die Regierung auf, ein Verbot der männlichen Genitalbeschneidung durchzusetzen – was von fast allen Kinderrechtsbeauftragten der nordischen Staaten übernommen wurde. Etwa zur selben Zeit brachte die damalige Generalberichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats für Kinder Marlene Rupprecht (SPD) in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates mit großem Erfolg einen Antrag ein, aus dem die Resolution ‘Children’s rights of physical integrity’ hervorging, die alle europäischen Staaten dazu aufrief, stärker und nachhaltiger gegen die Verletzung der Rechte von Kindern vorzugehen und in der die Jungengenitalbeschneidung namentlich Eingang gefunden hat.

5.2 Signale aus Deutschland auf den Rest der Welt

Die Signalwirkung, die mit der Schaffung des § 1631d BGB über die Landesgrenzen hinaus gesetzt wurde, sollte in Zeiten der Globalisierung mit bedacht werden. Gerade in afrikanischen Ländern, in denen verschiedene Menschenrechtsorganisationen gegen die Mädchengenitalbeschneidung kämpfen, darf die Botschaft, die Deutschland mit diesem Gesetz sendet, nicht unterschätzt werden. Der Einsatz gegen die Beschneidung von Mädchen, die dort in vielen Ländern an der Tagesordnung steht, wird durch ein solches Gesetz aus Deutschland behindert. Kurz nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, forderten bereits die ersten Imame in Ägypten, dass die Ächtung der weiblichen Genitalbeschneidung zurückgenommen werden sollte, und bezogen sich dabei auf das deutsche Gesetz. Auch sollte immer mit bedacht werden, dass die Genitalbeschneidung von Jungen und Mädchen, wie sie in sog. Entwicklungsländern durchgeführt wird, weit entfernt ist von hierzulande üblichen hygienischen Standards. Die Glasscherbe im Wüstenstaub und der häufige Tod durch Verbluten und Wundstarrkrampf sind hierbei grausame Tatsachen, die Jungen ebenso betreffen wie Mädchen.

Als positives Signal dagegen ist das Kölner Urteil zu bewerten, das international auf fruchtbaren Boden fiel, da es zum ersten Mal auch Jungen das Recht auf unversehrte Genitalien zusprach. Am 7. Mai finden inzwischen in vielen Ländern Demonstrationen und Kundgebungen statt, die zum Gedenken an das Urteil diesen Tag als „Worldwide Day of Genital Autonomy“ feiern. In diesem Jahr riefen dazu 25 Ärzteverbände und Frauen- und Menschenrechtsorganisationen aus Deutschland, England, Frankreich, Dänemark, USA, Kanada und Australien zu Kundgebungen an diesem Tag auf. Der jüdische Historiker Jérôme Segal nannte das Kölner Urteil in seiner Rede vor dem Kölner Dom am 7. Mai 2014 ein „Symbol der Vernunft“. Die Unterzeichner*innen dieses Papiers stehen hinter dem Kölner Urteil, das sich für die genitale Unversehrtheit und Selbstbestimmung aller Kinder ausspricht.

Fazit

Um das Selbstbestimmungsrecht von Kindern in Deutschland zu realisieren ist die Rücknahme des offen verfassungswidrigen § 1631d BGB unabdingbar. Zudem müsste der Schutzbereich von § 226a StGB auf alle minderjährigen Personen ausgedehnt werden, damit Jungen und intersexuelle Kinder ebenso wie Mädchen vor nicht-therapeutischen Eingriffen an ihren Genitalien geschützt werden. Die Möglichkeit der elterlichen Einwilligung in „geschlechtsangleichende“ Operationen am Genital des einwilligungsunfähigen Kindes wäre damit ebenso auszuschließen. Dies entspricht auch der Forderung „Über den Körper selbst bestimmen“ aus dem Bundestagswahlprogramm 2013 von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dem dort zurecht ein eigenes Kapitel gewidmet wurde.

Den Unterzeichner*innen dieses Papiers ist bewusst, dass dieser Forderung Traditionen und religiöse Gebote vieler Erwachsener entgegenstehen, die sich durch die von uns geforderte und unserer Ansicht nach einzig verfassungskonforme gesetzliche Regelung verletzt fühlen könnten. Es ist dennoch wichtig, im Bewusstsein auch der historischen Verantwortung, in einen gesellschaftlichen Diskurs zu treten und so auch die Stimmen in den religiösen Gemeinschaften zu stärken, die sich schon seit langem für eine Reform dieser Rituale einsetzen. Wir schlagen daher eine Übergangsregelung von fünf Jahren vor, in denen die Jungengenitalbeschneidung strafrechtlich nicht verfolgt wird. Sofort beendet werden muss hingegen die durch § 1631d BGB erfolgte komplette lebenslange Rechtlosstellung von Jungen gegen nicht-therapeutische Genialbeschneidungen. Während der Übergangsfrist gilt für die Betroffenen ab dem 18. Lebensjahr die Möglichkeit des Klageweges aufgrund der sog. schwebend unwirksamen Einwilligung. Das heißt, dass der betroffene Junge nach dem Erlangen der Volljährigkeit die in seinem Namen gegebene Zustimmung der Eltern mit allen rechtlichen Konsequenzen widerrufen kann.

Bereits einsichts- und einwilligungsfähige Jungen müssen umfassend über die Operationsrisiken und die zu erwartenden Auswirkungen auf ihr späteres Sexualempfinden aufgeklärt werden und im Zweifelsfall ein Vetorecht gegenüber dem Eingriff besitzen. Diese Aufklärung muss nach verbrieften Standards durch ärztliches Personal durchgeführt und dokumentiert werden, sowie auch die Eltern umfassen. Ebenso sorgfältig muss jede Jungengenitalbeschneidung mitsamt allen ggf. eintretenden Operationskomplikationen anonymisiert dokumentiert werden um eine belastbare Datenbasis für die weitere Evaluation zu bekommen.

Die in diesem Papier skizzierte Position steht im Einklang mit den allgemeinen Menschenrechten, der Grünen Kinderkommission, der Empfehlung des Bundesverbandes der Kinder-und Jugendärzte, der UN-Konvention über die Rechte des Kindes, der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und der Grünen Parteiposition für eine Verbesserung des rechtlichen Schutzes von Kindern.

Münster, 28.6.2014

Gislinde Nauy, KV Osnabrück
Dana Kühnau, KV München
Victor Schiering, KV Nürnberg
Walter Otte, KV Berlin Friedrichshain-Kreuzberg
Mariana Pinzón Becht, KV Heidelberg
Karen Ehlers, KV Böblingen
Ute Wellstein, KV Mainz
Michael Körner, KV Ettlingen
Gudrun Pannier, KV Berlin Tempelhof – Schöneberg
Dr. Dr. Rahim Schmidt, KV Mainz
Michael Matthes, KV Erfurt
Manfred Alban Pfeifer, KV Bobenheim-Roxheim
Regina Schiebel
Ulf Dunkel, KV Cloppenburg
Ingo Heise, KV Main-Taunus
Tayfun Aksoy, KV Köln
Ralf Frühwirt, KV Odenwald-Kraichgau

 

 

Weitere Unterzeichner*innen melden sich bitte unter
sprecherinnen@saekulare-gruene.de


 

Download des Papieres als pdf:

Hintergrundpapier zur Jungenbeschneidung


 

Quellen:

[1] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/142/1714218.pdf

[2] vgl. Tutsch, Josef: „Heilige Körperverletzungen“, in: Franz, Matthias (Hrsg.): Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis. Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 22

[3]     vgl. Segal, Jérôme: „Die Beschneidung aus jüdisch-humanistischer Perspektive“, in: Franz, Matthias (Hrsg.): Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis. Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 213

[4]     vgl. Moll, Friedrich H.: „Medizingeschichtliche und urologische Aspekte der Knabenbeschneidung“, in: Franz, Matthias (Hrsg.): Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis. Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 57

[5]     vgl. Segal, S. 213

[6]     „Ein Mittel gegen Masturbation, welches bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders, wenn er mit Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird. Bei Mädchen, so hat der Autor herausgefunden, ist die Behandlung der Klitoris mit unverdünnter Karbolsäure hervorragend geeignet um die widernatürliche Erregung zu mindern.“ John Harvey Kellogg [der Cornflakes-Tycoon!]: Treatment for Self-Abuse and Its Effects (zu deutsch etwa: „Die Behandlung der Selbst-Befleckung und ihrer Folgen“). Plain Facts for Old and Young, Burlington, Iowa: P. Segner & Co. 1888, S. 295.1891

[7]     vgl.: Lichtenheldt, Mario: un-heil. Vorhaut, Phimose & Beschneidung. Zeitgemäße Antworten für Jungen, Eltern und Multiplikatoren, tredition GmbH, Hamburg 2012, S. 163 – 170

[8]     Vgl. Vortrag Prof. Stehr an der Uni Köln am 6. Mai 2014 im Rahmen des Wissenschaftlichen Symposiums „Genitale Autonomie“ http://genitale-autonomie.de/videos-der-vortraege/stehr/

[9]     Schäfer, Matthias & Stehr, Maximilian: „Zur medizinischen Tragweite einer Beschneidung“, in: Franz, Matthias (Hrsg.): Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis. Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S.117-118

[10]     Vgl. Hartmann S. 4 – 5: http://www.kinderaerzte-im-netz.de/bvkj/kinpopup/psfile/pdf/70/121126_Ste50aa5e211e6a6.pdf (Demnach mussten im Zeitraum der Befragung vom 1.1.2010 bis zum 10.11.2012 durchschnittlich ca. 18 Jungen pro Tag wegen teilweise nicht unerheblicher Komplikationen einen Kinderarzt aufsuchen. Den größten Anteil machten dabei die Infektionen aus (98%, ein Drittel davon nur mit Antibiotikum behandelbar). Weitere zusätzlich gemeldete Komplikationen waren ein entstellendes kosmetisches Ergebnis (40% bzw. 7,5 Kinder pro Tag) und Blutungen (25% bzw. 4,5 Kinder pro Tag). In 13% der Fälle – also für durchschnittlich 2,4 Kinder pro Tag – führte der Gang zum Kinderarzt direkt ins nächste Krankenhaus, da sie ein zweites Mal operiert werden mussten. Bei den etwa 40.000 jährlich in Deutschland stattfindenden Beschneidungen von Jungen ist der Anteil der behandlungsbedürftigen Operationskomplikationen insgesamt also mit ca. 16% zu beziffern – und das obwohl die Beschneidung in 89% der Fälle von einem Arzt durchgeführt worden war.)

[11]     vgl. http://www.verein-tabu.de/: „Unser Verein hat sich 2001 gegründet, um gegen das Folterritual der weiblichen Genitalverstümmelung vorzugehen. Wie viele andere AktivistInnen in Deutschland haben wir anfänglich zwischen der Verstümmelung weiblicher Genitalien und männlicher „Beschneidung“ stark differenziert und die Auswirkungen von MGM (Male Genital Mutilation) eher als geringfügig abgetan. Zu gewaltig erschienen uns die Probleme, würden wir auch die Beschneidung an Jungen öffentlich kritisieren. Die Männer sollten sich um ihre Probleme schließlich selber kümmern. Inzwischen haben wir dazu gelernt und glauben nicht mehr an die Effektivität einer geschlechtsspezifischen Aufklärung. Bei fast allen Kampagnen, ob hier oder in Afrika, werden auch Fragen zur Beschneidung von Jungen gestellt. Selbst hartgesottene Krieger, wie einige der Maasai in Kenia, trauen sich mittlerweile, ihre Beschneidung zu hinterfragen. Sie wollen Informationen, wollen mehr Wissen… und berichten noch verhalten von ihren eigenen Problemen.“ (aufgerufen am 17.6.2014, 13.41 Uhr))

[12]     Tatsächlich ähneln sich aber die Motive der Beschneidung von Jungen und Mädchen. In der Regel geht es um religiöse Normen und um Initiationsriten. Jungen sollen mit der Beschneidung zu Männern werden, Mädchen zu Frauen. Es geht um das Erwachsenwerden, um die Aufnahme in eine Gemeinschaft bzw. die Zugehörigkeits-Bestätigung.

[13]     Es gibt auch viele andere Praktiken und Rituale unterschiedlichster Religionen auf dieser Welt, die ebenso mit Menschenrechten nicht vereinbar sind. Wir können nicht die einen erlauben und die anderen verbieten. Maßstab muss sein, dass die Grundrechte dritter nicht verletzt werden und dass Minderjährige denselben Schutz bekommen.

[14]     Rupprecht, Marlene, „Das Recht, alles zu glauben – nicht aber, alles zu tun“, in: Franz, Matthias (Hrsg.): Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis. Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 423

[15]     BT-Drucksache 17/10331

[16]     Vgl. http://hpd.de/node/14463

[17]     In der Diskussion über die weibliche Beschneidung wurde hingegen gar nicht berücksichtigt, dass es durchaus auch Frauen gibt, die sich so über ihre eigene Beschneidung äußern.

[18]     Eine sehr vermessene Argumentationsweise: Wer legt fest, welche Anzahl dafür nötig wäre?

[19]     Vgl. Zu diesem Absatz: Scheinfeld, Jörg: „Die Knabenbeschneidung im Lichte des Grundgesetzes“ in: Franz, Matthias (Hrsg.): Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis. Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 358 – 396; und: Scheinfeld, Jörg: „Erläuterungen zum § 1631d BGB – Beschneidung des männlichen Kindes“, in: HRRS. Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, Juli/August 2013, S. 268 – 283 (online-Zugriff 25.5.2014: http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/13-08/index.php?sz=8)

[20]     Im Mai 2014 musste in Norwegen ein Baby ins künstliche Koma versetzt werden, da bei einer Beschneidung in zu hoher Dosis narkotisiert wurde.

[21]     vgl. hierzu auch: Art. 6 [Recht auf Leben]: (2) „Die Vertragsstaaten gewährleisten in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes.“

[22]     Mitglieder u.a. Renate Künast & Katrin Göring-Eckardt

[23]     vgl. Memet Kilic in seinem „Gastbeitrag zur Beschneidung“: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gastbeitrag-zur-beschneidung-freiheit-ist-wichtiger-als-tradition-11967472.html

[24]     vgl. http://www.cbsnews.com/news/in-south-africa-circumcision-ritual-becomes-health-crisis/

[25]     http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Wahlprogramm/Wahlprogramm-barrierefrei.pdf, s. 245-246

 

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