7. Vollversammlung der Säkularen Grünen – Positionspapier zur schulischen Bildung

7. Vollversammlung der Säkularen Grünen in Erfurt – Beschluss eines Positionspapieres zur schulischen Bildung: Orientierung auf Wertemündigkeit mit Pflichtfach „Philosophie und Religionskunde“

Bereits zum zweiten Mal fand Anfang April eine bundesweite Zusammenkunft der Säkularen Grünen in Erfurt statt- ziemlich genau ein Jahr nach dem ersten Treffen in der thüringischen Landeshauptstadt. 2015 war es die 6. Vollversammlung, die ein Positionspapier zum Islampapier verabschiedete und die Strukturen der Säkularen Grünen hin zu einem Delegiertenprinzip veränderte, 2016 dann die 7. Vollversammlung, die ein Positionspapier zur schulischen Bildung verabschiedete.

Einen Schwerpunkt der Vollversammlung bildete die Debatte über den im März veröffentlichten Bericht der grünen Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“, dessen Bewertung und die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Nach ausführlicher Diskussion über mehrere Stunden billigte die Versammlung bei nur wenigen Enthaltungen die vom Vorstand vorgenommene Einschätzung der Kommissionsarbeit und des Kommissionsberichts. Der Beschluss lautet: „Die Vollversammlung dankt den säkularen Kommissionsmitgliedern für die engagierte Kommissionsarbeit und billigt die im Nachgang zum Kommissionsbericht vom Vorstand abgegebene Stellungnahme.“

In der Debatte wurde aber deutlich, dass insbesondere die Vorschläge der Kommissionsmehrheit zur Kirchensteuer und zur vollständigen steuerlichen Abzugsfähigkeit auf weitgehende Ablehnung stießen. Hier sehen die Säkularen Grünen innerhalb der Parteidebatte noch erheblichen „Nachbesserungsbedarf“.

Der Kommissionsbericht war auch Gegenstand einer Diskussionsveranstaltung am Abend des 2. April, an der auf dem Podium Bettina Jarasch (Bundesvorstand Bündnis 90 / Die Grünen und Leiterin der Kommission), Astrid Rothe-Beinlich (Parlamentarische Geschäftsführerin Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Thüringer Landtag), Johann-Albrecht Haupt (Beiratsmitglied Humanistische Union) sowie für die säkularen Grünen Walter Otte und Jürgen Roth nach einer thematischen Einleitung von Mariana Pinzon Becht teilnahmen.

Einen weiteren Schwerpunkt der Vollversammlung bildete die Beschlussfassung zu einem Positionspapier zur schulischen Bildung betreffend Ethik-, Religions-, Religionskunde- und Weltanschauungsunterricht. In dem nach ausführlicher Diskussion verabschiedeten „Positionspapier des Bundesweiten Arbeitskreises Säkulare Grüne zur schulischen Bildung“ die Einführung eines Pflichtfaches „Philosophie und Religionskunde“ gefordert. Dieses Fach soll verbindlich sein für alle Schüler*innen, inklusiv im Klassenverband, soll „… die Lehren und die Geschichte von Philosophie, Religionen und Weltanschauungen … vermitteln und die Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik und Moral … befördern.“ Orientiert wird auf eine Erziehung zu einer „Wertemündigkeit in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft“.

Die erste ausführliche Debatte zu dieser Thematik fand im Oktober 2015 auf der Delegiertenkonferenz in Mainz statt. In Erfurt hielt zu Beginn der Erörterungen des Positionspapiers der Jenaer Prof. Dr. Knöpffler einen Vortrag, in dem er sich ausführlich mit den Inhalten eines Alternativfaches zum bekenntnisgebundenen Religionsunterricht befasste. Seinem Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an, die dazu führte, den vorgeschlagenen Unterricht nicht als „Ethikunterricht“ zu bezeichnen, sondern als „Philosophie und Religionskunde“.

Die Mitglieder der Vollversammlung waren sich einig, dass sich das seit 2015 praktizierte Modell der Erörterung von Positionspapieren in zwei aufeinander folgenden Versammlungen bewährt hat. So kann in der ersten Versammlung nach Inputreferaten eine breite inhaltliche Diskussion stattfinden – ohne den Druck sogleich zu einer veröffentlichungsfähigen Einigung zu kommen. In der zweiten Versammlung wird eine Beschlussvorlage vorgelegt, die auf den Diskussionen der vorhergehenden Versammlung beruht, und konzentriert auf ein Ergebnis hin geführt wird.

In einer ersten Debatte zum Thema „Theologie an Hochschulen“ kamen kontroverse Standpunkte zum Ausdruck; die Bandbreite der Äußerungen ging von völliger Ablehnung des Faches Theologie an Hochschulen bis zu (modifizierten) Beibehaltung sowie Ausdehnung auf andere als christliche Religionen und der Schaffung eines aus humanistischen Kreisen geforderten Lehrstuhls für Humanistik. Deutlich wurde aber auch bei sämtlichen Stimmen pro Theologie an den Hochschulen, dass die Eingriffsmöglichkeiten der Religionsgemeinschaften in die Wissenschaftsfreiheit und die gegenwärtige finanzielle und sächliche Überausstattung zurückgefahren werden müssen. Eine abschließende Behandlung dieses Themas mit der Beschlussfassung eines Positionspapieres soll im Juni auf einer Delegiertenkonferenz in Berlin erfolgen.

Für die anstehenden Gespräche mit dem grünen Bundesvorstand über die Anerkennung einer Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne erteilten die Versammelten den beiden Vorstandssprechern Mariana Pinzon Becht und Walter Otte das Mandat für Verhandlungen mit dem grünen Bundesvorstand, aber auch im Falle des Scheiterns der Verhandlungen, den Antrag auf Anerkennung als BAG auf dem Länderrat in Berlin aufrecht zu erhalten. Zuvor waren die Rahmenbedingungen des komplizierten Prozesses, der aufgrund BAGstruktureller Bedingungen und auch politischer Anfeindungen erforderlich geworden war, ausgiebig erörtert worden.

Beschlossen wurde von der VV die Unterstützung der Aktivitäten zum Worldwide Day of Genital Autonomy anlässlich des 7. Mai, dem Jahrestag des Kölner Beschneidungsurteils von 2012.

Walter Otte

Hinweis: Das Positionspapier zur schulischen Bildung wird in Kürze veröffentlicht.
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Wortlaut der Stellungnahme des Vorstands des Bundesweiten Arbeitskreises Säkulare Grüne zum Bericht der BuVo-Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“:

Wir begrüßen das jetzt veröffentlichte Ergebnis der zweijährigen Arbeit der Bundesvorstands-Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“. Aus dem Kommissionsbericht ergeben sich eine Reihe deutlicher religionspolitischer Reformvorschläge. Auf Grundlage des Berichts werden in den nächsten Monaten innerhalb Bündnis 90 / Die Grünen die Religions- und Weltanschauungspolitik, die Bedeutung und Ausformung staatlicher Neutralität gegenüber Religionen und Weltanschauungen in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft breit diskutiert werden. Im Herbst 2016 steht diese Thematik auf der Tagesordnung der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster. Damit ist eine lange Periode religionspolitischer Abstinenz der Partei beendet.Bündnis 90 / Die Grünen ist in der deutschen Parteienlandschaft wieder einmal führend: die Thematisierung und Behandlung von Reformvorhaben zum „Religionsverfassungsrecht“ in einer pluralistischen Gesellschaft kommt bei den anderen Parteien nicht vor. An dieser Vorreiterrolle der Partei hat der Bundesweite Arbeitskreis Säkulare Grüne, der mit mehreren Vertreter*innen (Berivan Aymaz, Mariana Pinzón Becht (zeitweilig für sie Diana Siebert), Jürgen Roth und Walter Otte) in der Kommission mitgearbeitet hat, einen ganz wesentlichen Anteil. Säkulare Grüne haben mit BDK-Anträgen im Jahr 2013 das Zustandekommen der Kommission erheblich vorangebracht.
Der Kommissionsbericht enthält wichtige Aussagen in einem säkularen Sinne zu einer Neubewertung der gesellschaftlichen Situation in Deutschland. Diese Aussagen berücksichtigen die veränderte religiöse und weltanschauliche Zusammensetzung der bundesdeutschen Gesellschaft. In Anbetracht der ständig steigenden Zahl von konfes- sionsfreien Menschen, der sich vertiefenden Binnendifferenzier- ung innerhalb der großen Kirchen, des Hinzukommens weiterer Religionen, der Bedeutung kleinerer Religionsgemeinschaften sowie der wachsenden Bedeutung von Weltanschauungsgemeinschaf- ten ist eine politische Neubewertung dringend notwendig.
Ein „Weiter so“ bisheriger grüner Religionspolitik wird es nicht geben: Bündnis 90 / Die Grünen wird künftig nicht einfach bloß „Religionspolitik“ machen, sondern die reale gesellschaftliche Situation auf diesem Gebiet zu berücksichtigen haben.
Generell stellt der Kommissionsbericht fest, dass „der säkulare Staat … den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber neutral sein und organisatorisch prinzipiell von ihnen getrennt sein (muss).“ Diese Gemeinschaften haben ein „verfassungsrechtlich garantiertes Selbstordnungs- und –verwaltungsrecht“, das allerdings – so stellt die Kommission fest – nicht unbeschränkt gelte. Die Kommission hat vermieden, den die Rechtsposition der Religionsgemeinschaften überhöhenden Begriff des „Selbstbestimmungsrechts“ zu verwenden. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften werden als Teil der Zivilgesellschaft bewertet. Insofern wird weder Religion noch Weltanschauung in die rein private Sphäre verdrängt. Zugleich wird aber betont, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften „eine wichtige Säule für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie konstitutiv für eine lebendige Demokratie sein“ können. Sie müssen sich diese Rolle aber bei Achtung der „Grundprinzipien der Verfassung“, der auch – selbstkritischen – Beteiligung am öffentlichen Diskurs, der Relativierung ihrer Ansichten im Verhältnis zu anderen Meinungen gewissermaßen erarbeiten. Sie stehen in keiner Weise über anderen Beteiligten an der Zivilgesellschaft.
Aus grün-säkularer Sicht können wir mit Zufriedenheit feststellen, dass eine Reihe unserer Positionen ihren Niederschlag im Kommissionsbericht gefunden haben:
Zum “Kirchlichen Arbeitsrecht” sind Reformvorschläge enthalten, die eine Verbesserung der Grundrechtspositionen der dort beschäftigten Arbeitnehmer*innen bewirken werden. Beschäftigte bei Caritas und Diakonie sollen gleichgestellt werden mit Beschäftigten beispielsweise in Betrieben der AWO oder des DRK. Zudem soll der Tendenzbereich („Verkündigungsbereich“) eng gefasst werden.
Im Bereich der Kirchenfinanzen konnten wir Schritte zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten zum Konsens bringen. Es wird vorgeschlagen, auf die pauschale Kirchensteuer bei geringfügig Beschäftigen zu verzichten, ferner eine Reform bei der Besteuerung glaubensverschiedener Ehen durchzuführen, damit die Ehegatten durch das Splitting nicht für eine Religionsgemeinschaft steuerpflichtig werden, der sie nicht angehören. Auch der rechtssichere und kostenlose Kirchenaustritt ist eine unser Forderungen, die im Papier Eingang gefunden haben. Zudem sollen die Kirchenfinanzen transparent gemacht werden; auf die Abschaffung der sog. historischen Staatsleistungen soll hingearbeitet werden.
Der Kommissionsbericht enthält Vorschläge zum Feiertagsrecht, die bei Aufrechterhaltung des starken sozialen Schutzes gesetzlicher Feiertage u.a. eine weitgehende Liberalisierung der bislang religiös bedingten Einschränkungen des Alltagsverhaltens der Bevölkerung vorsehen („Tanzverbote“). Zudem werden Grundsätze erstellt, nach denen auch Angehörige anderer Religionen und von Weltanschauungen die Möglichkeit zur Arbeitsbefreiung an ihnen wichtigen Feiertagen gegeben sein wird; im Bericht werden diskriminierungsfreie Grundsätze für eine Arbeitsbefreiung für alle zur Wahrnehmung ihrer religiösen und weltanschaulichen Belange formuliert.
Die Kommission fordert die Entwicklung einer neuen öffentlichen Gedenk- und Trauerkultur (etwa nach Katastrophen und Unfällen), die der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt Rechnung trägt.
Es wird einvernehmlich von der Kommission bekräftigt, dass der sog. Blasphemieparagraf 166 StGB abgeschafft werden soll. Die rechtliche Anerkennung in Statusfragen wurde in der Kommission kritisch diskutiert. Wir konnten uns mit unserer Forderung nach einer Infragestellung des Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts und der damit verbundenen Privilegien nicht durchsetzen.
Der Kommissionsbericht enthält deutliche Kritik an der bislang von grüner Seite praktizierten Politik gegenüber den konservativ-orthodoxen Islamverbänden, die vorrangig national und politisch ausgerichtet sind. Dadurch wird eine offenere Diskussion über die Repräsentanz der Muslim*innen in Deutschland möglich und auch die Pluralität der Stimmen kann im Diskurs um den Islam in Deutschland sichtbarer gemacht werden.
Aus den Erfahrungen des Umgangs mit der „Beschneidungsdebatte“ 2012 und der „Sterbehilfedebatte“ 2014 / 2015, bei denen die Gesamtpartei weitgehend ausgeschlossen war, zieht die Kommission Konsequenzen und schlägt Verfahren zur Diskussion „ethischer Themen“ innerhalb Bündnis 90 / Die Grünen vor, die dann auch in Debatten und Voten auf Bundesdelegiertenkonferenzen münden sollen. Ziel ist es, den Ausschluss von Debatten innerhalb der Partei künftig zu vermeiden.
Nicht sämtliche Positionen der Säkularen Grünen sind in dem Kommissionsbericht, der Ergebnis einer auf Konsens orientierten Arbeitsweise ist, berücksichtigt worden. Differenzen werden im Kommissionsbericht allerdings als Dissens ausgewiesen. Dies betrifft insbesondere die Themen „Kirchensteuer“ und „Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts“. Wir Säkulare Grüne halten an unseren Forderungen hierzu fest, weil wir überzeugt sind, dass Gleichberechtigung in der Religionspolitik nur durch die Abschaffung der bestehenden Privilegien erreicht werden kann und nicht durch die Ausweitung von diesen. Auch der Datenschutz kann nur verwirklicht werden, wenn der Staat die Kirchensteuer nicht mehr eintreibt. Die Ablösung der historischen Staatsleistungen muss vorangetrieben werden.
Wir sehen insgesamt in dem Arbeitsprozess und dem Arbeitsergebnis der Kommission einen positiven nach vorne gerichteten Schritt, der deutlich macht, dass Bündnis 90 / Die Grünen auch die Heraus- forderungen auf diesem Gebiet angeht und Lösungen erarbeitet.
Wir sehen der parteiweiten Debatte mit großem Optimismus entgegen.
Für den Vorstand des Bundesweiten Arbeitskreises Säkulare Grüne

Mariana Pinzón Becht Walter Otte

Im März 2016

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