Die BAG Säkulare Grüne hat sich auf ihrer Herbsttagung 2020 nach bereits früheren Diskussionen auf ein Papier geeinigt, das die Vorstellungen und Forderungen der BAG zum Umgang von Bündnis90/Die Grünen mit reaktionären politischen Islam-Verbänden zusammenfasst.
Die Religionsfreiheit ist kein Obergrundrecht
Die BAG Säkulare Grüne verlangt in einem Grundsatzpapier, die Zusammenarbeit mit religiösen Gemeinschaften – unabhängig von ihrer Konfession – an die Beachtung verfassungsmäßiger Rechte zu binden.
Die größten Islamverbände hierzulande verfolgen eine konservativ-orthodoxe Auslegung des Islam. Dabei geht es um zementierte Geschlechterrollen und gesellschaftliche Leitbilder, die teilweise inkompatibel mit den Wertvorstellungen einer offenen, demokratischen Gesellschaft sind.
Verbände wie der DITIB als ausführendes Organ der türkischen Religionsbehörde betreiben eine rigorose Identitätspolitik mit autoritären Binnenstrukturen. Hinzu kommt die Abhängigkeit vieler dieser Verbände von Regierungen autoritär geführter Staaten. Diese nutzen die Verbände als verlängerten Arm ihrer Interessen. Sie verwandeln das individuelle Grundrecht der Religionsfreiheit zum Anspruch weniger, unkontrollierte Macht über andere auszuüben.
Die BAG Säkulare Grüne hat sich mit den verschiedenen islamischen Vereinigungen in Deutschland auseinandergesetzt. Sie hat Kriterien entwickelt, wie die Partei sowie Bund, Länder und Kommunen künftig mit diesen Verbänden umgehen sollten.
Der Staat hat die Pflicht, Übergriffe auf die Rechte anderer Menschen im Namen einer Religion zu unterbinden. Diese Eindämmung der Übermacht der Orthodoxen ist kein Versuch, Religionsgemeinschaften mit hoheitlichen Mitteln nach staatlichen Vorgaben reformieren zu wollen. Das Gebot der Neutralität in Religionsangelegenheiten ist jedoch kein Blankoscheck, Menschenrechte zu missachten sowie Frauen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu diskriminieren. Wer sich so verhält, hat keinerlei Anspruch auf staatliche Unterstützung.
Das vorliegende Papier soll dabei der grünen Partei helfen, einen klareren religionspolitischen Kurs zu fahren. Diese Aufgabe wurde in der Vergangenheit immer wieder vernachlässigt.
Die BAG befürwortet, dass sich die Partei auch an den Vorstellungen des französischen Präsidenten Manuel Macron in seiner Rede von 1. Oktober 2020 orientiert. Der Präsident stellt treffend klar, dass die Religionsfreiheit dort endet, wo die Regeln des Glaubens mit der Demokratie unvereinbar sind.
Konsequenzen und Forderungen für die politische Arbeit unter Pkt. 4 des folgenden Beschlusses
Beschluss der BAG Säkulare Grüne
Wiesbaden, den 27.09.2020
Kritischer Umgang mit reaktionären politischen Islam-Verbänden
Die Realität des organisierten Islam in Deutschland ist heute von einer Dominanz orthodoxer Verbände geprägt. Daneben gibt es auf der einen Seite Akteure, die dem politischen Islam zuzuordnen sind, auf der anderen Seite Akteure eines liberalen Islam. Wir wollen, dass Grüne stärker die Vielfalt des Islam wahrnehmen die Sichtbarkeit liberaler Muslim*innen stärken und die Beachtung der Menschenrechte (insbesondere gegenüber Frauen, Kindern und LGBTIQ*) gegenüber orthodoxen Verbänden konsequent einfordern. Dazu stellen wir konkrete Forderungen.
1. Vorbemerkung zu den Grundsätzen säkularer Religionspolitik
Die Glaubensfreiheit als Grund- und Menschenrecht ist Grundlage grüner säkularer Religionspolitik. Der Staat ist Garant dafür, dass im gesellschaftlichen Raum religiöse und weltanschauliche Vielfalt existieren kann. Voraussetzung für einen solchen Schutz der Freiheitsrechte ist die Neutralität des Staates in Religionsfragen. Diese Neutralität darf aber nicht verwechselt werden mit Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verwerfungen, die Anlass zur Besorgnis bieten. Gefahren für die religiös-weltanschauliche Vielfalt drohen durch das Dominanzgebaren streng hierarchisch organisierter religiöser Gemeinschaften. Diese spiele oftmals die Belange fremder Staaten gegen die Freiheitsrechte hier lebender Menschen aus. Hier sind staatliche Stellen in der Pflicht, die Rechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger vor einer solchen kollektivistischen Vereinnahmung zu schützen.
Zur Glaubensfreiheit hat sich die Grüne Partei in ihrem Beschluss der BDK in Münster 2016 bekannt. Die dort beschlossenen Grundsätze bauen auf den Abschlussbericht einer Fachkommission auf, die vom Bundesvorstand eingerichtet wurde und an der auch die Mitglieder der späteren BAG Säkulare Grüne mitgewirkt haben. Diese Beschlüsse verstehen wir als Grundlage, nicht aber als Begrenzung, für unsere Arbeit. Wir erwarten insbesondere von den Fraktionen in Bundestag und den Landesparlamenten, dass sie den Beschluss ebenfalls endlich mit Leben erfüllen und in praktische Politik umsetzten. Die religionspolitische Lethargie muss ein Ende haben.
2. Grundsätze grüner säkularer Religions- und Weltanschauungspolitik
Religionspolitik ist ein überaus vielgestaltiger Bereich der Gesellschaftspolitik. Sie umfasst das Zusammenleben von Menschen in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft. Gehörten noch in den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts über 95 Prozent der Menschen zumindest in der alten Bundesrepublik der evangelischen oder katholischen Kirche an, so sind es aktuell nur noch wenig mehr als die Hälfte. In den neuen Bundesländern und den Großstädten sind deren Angehörige längst in der Minderheit. Der Zuzug von Menschen aus muslimisch geprägten Ländern hat die religiöse Ausdifferenzierung der Bevölkerung noch weiter verstärkt.
Die BAG Säkulare Grüne ist davon überzeugt, dass der Staat in religiösen und weltanschaulichen Fragen konsequent neutral sein muss, will er der wachsenden Vielgestaltigkeit gerecht werden. Voraussetzung für Neutralität ist die Gleichbehandlung der einzelnen Personen und Gemeinschaften und der konsequente Kampf gegen jede Form religiös und weltanschaulich motivierter Diskriminierung – auch durch Gläubige und Glaubens- wie Weltanschauungsgemeinschaften. Ferner ist jeder Machtanspruch von dieser Seite klar zurückzuweisen.
Religionsfreiheit ist neben der Wissenschaftsfreiheit zwar das einzige Grundrecht, das nur durch die Grundrechte anderer beschränkt werden kann. Religionsfreiheit ist aber kein Obergrundrecht, erst recht nicht die korporative Religionsfreiheit religiöser Institutionen, dem sich die Rechtsgemeinschaft und ihre Angehörigen zu unterwerfen haben. Jeder religiös und weltanschaulich begründete Herrschaftsanspruch ginge zu Lasten der Freiheit anderer. Von daher müssen sich alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auch scharf kritisieren lassen und auf jeden Vorrang verzichten. Privilegierende Sonderregelungen für Akteure des politischen oder orthodoxen Islam etwa im Bereich von Schulen oder anderen öffentlichen Bereichen, lehnen wir als Eingriff in die Freiheitsrechte sowie aufgrund der Verpflichtung des Staates zur Neutralität ab.
3. Kritische Auseinandersetzung mit dem politischen Islam
Die Anforderungen an eine grüne Islam-Politik haben sich in den vergangenen Jahren tiefgreifend verändert. Einerseits gibt es eine veränderte muslimische Landschaft in Deutschland: Die Forschungsgruppe fowid schätzt die Zahl der konfessionsgebundenen Muslim*innen auf 4,3 Millionen (etwa 5% der Bevölkerung). Vor wenigen Jahren dominierten noch türkeistämmige Muslim*innen der ersten und zweiten Generation. Durch den Zuzug von Geflüchteten ist nun vor allem die Zahl arabischstämmiger und afghanischstämmiger Muslim*innen stark gestiegen – viele werden langfristig in Deutschland bleiben. Gleichzeitig suchen auch (türkeistämmige) Muslim*innen der zweiten und dritten Generation, deren primäre Sprache meistens Deutsch ist, nach Wegen, sich Gehör zu verschaffen. Zur Zeit ist es vor allem die salafistische Szene, die deutschsprachig geprägte Moscheen unterhält und jungen Muslim*innen den Islam in ihrer Interpretation auf Deutsch zugänglich macht – Angebote anderer Islam-Interpretationen auf Deutsch gibt es nur vereinzelt.
Als (säkulare) Grüne folgen wir dem Leitbild einer demokratischen Gesellschaft, in der Menschen unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Glaube und Weltanschauung wie ethnischer Herkunft gleichberechtigt leben. Dies wirkt sich auch auf unser Bild von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften aus. Säkulare Grüne können ebenso wenig wie die Grüne Partei oder der deutsche Staat den Islam (oder irgendeine andere Religion oder Weltanschauung) reformieren! Das wäre eine völlige Verkennung des Neutralitätsgebots. Doch die Gewährung von Unterstützung kann nicht bedingungslos sein. Wer anti-demokratische Haltungen verbreitet, darf dafür auf keinen Fall staatliche Unterstützung bekommen. Wer Gewalt gegen Frauen und Kindern das Wort redet, begeht eine Straftat.
Religionsgemeinschaften und Verbände, die auch innerreligiös dem Prinzip der Gleichberechtigung folgen und versuchen, religiöse Quellen und Traditionen im Lichte einer demokratischen, gleichberechtigten Gesellschaft auszulegen, stehen uns Grünen zweifellos politisch näher.
Wir können diesen reformbereiten muslimischen Kräften dabei helfen, sich Gehör zu verschaffen und sich gegen die Dominanz der konservativen Kräfte zu behaupten. Wir werden progressive Kräfte auch innerhalb der Verbände unterstützen. Die konstruktive Kritik an der grünen Islampolitik, die von vielen betroffenen Menschen mit Migrationshintergrund (von denen viele aus islamisch geprägten Ländern abstammen) geäußert wird, muss die Partei endlich aufgreifen und in konkretes politisches Handeln umsetzen! In diesem Zusammenhang weisen wir auf den Brief der „Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung“ an die Parteivorsitzenden der SPD, Linken und Grüne hin. Persönlichkeiten mit klar säkularem Anspruch sollten bevorzugte Gesprächspartner*innen für Grüne sein.
Denn religiöse Neutralität heißt nicht, den Dingen ihren Lauf zu lassen und in Religionsfragen dem Recht des Stärkeren und Größeren den Vorzug zu geben. Zu oft haben Grüne in Verantwortung problematische Positionen der orthodoxen Islamverbände kritiklos stehengelassen oder sogar befördert.
Der Staat hat die Aufgabe, auch unter Wahrung seiner Neutralitätsverpflichtung, auf der Trennung von Staat und Religion zu bestehen und sie durchzusetzen, denn das säkulare staatliche Recht hat Vorrang gegenüber allen religiösen Vorschriften wie der Scharia. Auch die Zivilgesellschaft ist aufgefordert, mutig für das Prinzip der Säkularität einzutreten. Wer religiöse Normen über demokratisch legitimiertes, säkulares Recht stellt, schließt sich selbst aus der liberalen Wertegemeinschaft aus.
Islamische Verbände haben wie alle anderen religiösen und weltanschaulichen Akteure selbstverständlich das Recht, sich an politischen und gesellschaftlichen Debatten zu beteiligen und ihre Interessen zu vertreten. Sie repräsentieren allerdings keinesfalls alle Menschen, die ihre Wurzeln in islamischen Ländern haben und auch bei weitem nicht alle bekennenden Muslim*innen, sondern allenfalls ihre Mitglieder. Versuche, diese Bevölkerungsgruppe pauschal zu vereinnahmen, um ihren politischen Einfluss auf die demokratische Gesellschaft auszubauen und andere Stimmen zu marginalisieren, erteilen wir eine klare Absage.
Auch ist es diskriminierend, wenn die Grundrechte der Bürger*innen bestimmten benachteiligten Gruppen in Religionsgemeinden faktisch nicht zustehen bzw. sie an der Ausübung der Grundrechte gehindert werden.
Wir unterstützen Reformbewegungen von Frauen innerhalb der Islamverbände dabei, ihre Positionen eigenständig und unabhängig von den Verbandsleitungen zu vertreten, wenn sie sich für die Geschlechtergleichstellung und gegen patriarchale Bevormundung zur Wehr setzen. Grundlage sind hierfür die Menschen- und insbesondere die Frauenrechte, die universell gelten und unteilbar und unverhandelbar sind.
Die großen islamischen Dachverbände in Deutschland, die im „Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM)“ zusammengeschlossen sind, sind DİTİB, der von Millî Görüş dominierte Islamrat, der Zentralrat der Muslime sowie der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Diese großen Islamverbände repräsentieren nur einen kleinen Teil der in Deutschland lebenden Muslim*innen. Gerade die Verbände mit starker Bindung an die Türkei sind nicht geeignet, die größer werdende Zahl nicht-türkeistämmiger Muslim*innen sowie der Muslim*innen der 3. Generation zu repräsentieren.
3.1. DİTİB als verlängerter Arm von Erdogans Religionsbehörde
Der größte Islamverband DİTİB, der de facto der türkischen Religionsbehörde Diyanet unterstellt ist, verdankt seine dominierende Stellung in der muslimischen Landschaft in Deutschland nicht zuletzt der CDU-Politik der 1980er Jahre, die Fragen der religiösen Bedürfnisse der „Gastarbeiter“ gerne der türkischen Regierung überlassen wollte. Muslim*innen wurden nicht als Teil der deutschen Gesellschaft gesehen, sondern als „Ausländer“. Die Umstände bei der Eröffnung der Kölner DİTİB-Moschee 2018, bei der diejenigen ausgesperrt blieben, die sich über Jahre hinweg gegen heftige Widerstände für den Bau eingesetzt haben, zeigt, dass DİTİB bis heute seine Mitglieder pauschal als Türk*innen versteht anstatt als Teil der deutschen Gesellschaft. Ein Verband, der von einem ausländischen Staat unterstützt wird, in dem in den letzten Jahren ein rasanter Demokratieabbau stattfand, wird aber dauerhaft ein Fremdkörper in der religiösen Landschaft Deutschlands bleiben. Grüne Versuche, durch Kooperation einen Wandel herbeizuführen, haben sich als fruchtlos erwiesen.
Der türkische Staat will keine Unabhängigkeit der deutschen Moscheegemeinden und hat durch die Entsendung der Imame, die Kontrolle über die Grundstücke sowie die DİTİB-Zentrale in Köln alle Mittel in der Hand, um eine Loslösung zu unterbinden. Verantwortliche und Akteur*innen, die für eine vorsichtige Loslösung von Ankara eintraten, wurden aus dem Verband herausgedrängt oder kaltgestellt. Durch Spionageakte und Propagandaaktionen haben weite Teile der DİTİB unter Beweis gestellt, dass sie die autoritäre Politik des türkischen Staates auch nach Deutschland tragen.
3.2. Die islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG)
Die islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) ist Mitglied im Dachverband des Islamrats und dominiert diesen. Auch auf Landesverbänden ist sie Teil von Dachverbänden, etwa der „Schura“ in Niedersachsen und Hamburg. Deren Anfänge in Deutschland gehen bis auf das Jahr 1972 zurück, als sich in Deutschland die erste Moschee des Verbandes bildete. Die Anhänger*innen von Millî Görüş verstanden sich als Unterstützer*innen der 1970 von Necmettin Erbakan in der Türkei gegründeten Nationalen Ordnungspartei (Millî Nizam Partisi). Sie strebte die Ersetzung des laizistischen Systems in der Türkei durch eine islamische Ordnung an. Erbakan idealisierte das Gesellschaftsmodell des Osmanischen Reiches und glaubte, durch die Errichtung eines islamischen Zunftwesens anstelle des Kapitalismus die Türkei zu ökonomischen Wohlstand führen zu können. Sein Gedankengut war von antisemitischen und anti-armenischem Verschwörungstheorien geprägt. Aufgrund von Parteiverboten (teilweise im Rahmen von Militärputschs) wurde die Partei mehrfach verboten und unter unterschiedlichen Namen neu gegründet. In Deutschland wurde er zunächst zum dominierenden Verband und konnte sich – nach der Gründung der DİTİB und der Abspaltung der radikalen Anhängerschaft Cemaleddin Kaplans, die später den sogenannten „Kalifatstaat“ begründeten, als Nummer zwei der Moscheeverbände behaupten. In den ersten Jahrzehnten verstand die Anhängerschaft die Bundesrepublik vor allem als Rückzugsraum, in dem Geld für die Bewegung in der Türkei und ihr Projekt der islamischen Ordnung gesammelt werden konnte. Langfristig wurde die Rückkehr in der Türkei angestrebt. Erst seit den 1990er Jahren steht für die Mitglieder das dauerhafte Leben in Deutschland im Fokus.
Von 1996 bis 1997 konnte Necmettin Erbakan die Türkei kurzzeitig als Ministerpräsident regieren, musste aber auf Druck des Militärs den Posten wieder verlassen. 2001 spaltete sich die Millî-Görüş-Bewegung in die von Recep Tayyip Erdoğan geführte AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) und die Saadet Partisi (SP), die zunächst weiter durch den 2011 verstorbenen Necmettin Erbakan geführt wurde. Der deutsche IGMG-Verband hielt der SP die Treue, die angesichts der Dominanz der AKP jedoch in der politischen Bedeutungslosigkeit versank.
Bereits in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren vollzog die IGMG unter Mehmet Sabri Erbakan, dem Neffen Necmettin Erbakans, einen Richtungswechsel. Mehmet Erbakan forderte die Mitglieder auf, deutsche Staatsbürger zu werden, um in der Bundesrepublik politischen Einfluss ausüben zu können. IGMG erklärte nun, als religiöser Verband agieren zu wollen und sich nicht als verlängerter Arm einer politischen Partei zu verstehen. Gleichzeitig wurde die Idee eines Euro-Islam abgelehnt.
Die Bewertungen der IGMG gehen auseinander. Mehrere Verfassungsschutzämter haben daher die Beobachtung der IGMG eingestellt oder beobachten nur noch Teile des Millî-Görüş-Netzwerkes, da die „extremistischen Bezüge“ aus Sicht der Behörden zurückgegangen sind. In der Wissenschaft wird die IGMG teilweise als Phänomen des Post-Islamismus gesehen, da die orthodoxe Religionsbefolgung an die Stelle der politischen Vision getreten sei. Andere Forscher wiederum sind der Auffassung, dass die IGMG heute zwar primär auf die Religionsausübung konzentriert ist, eine Aufarbeitung des Gedankenguts ihrer Gründungsfigur Erbakans mit ihren anti-demokratischen und antisemitischen Elementen bis heute nicht stattgefunden habe. Während ein Großteil der IGMG sich bemühe, Distanz zur türkischen Innenpolitik zu wahren – auch bei heiklen Themen wie den türkischen Militäreinsätzen in Syrien – gibt es im Verband durchaus auch Erdogan-nahe Kräfte, die sich einen Schulterschluss mit der AKP wünschen.
Die Versuche der Loslösung von der türkischen Politik erscheinen durchaus real. Daher sollte die Politik jene Kräfte innerhalb der IGMG stärken, die diesen Weg weitergehen wollen. Gleichzeitig aber sind die Aufarbeitung der islamistischen Vergangenheit und eine Distanzierung von der antisemitischen Gründungsfigur als eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit zu verlangen. Das heißt auch, dass Kräfte innerhalb der IGMG, die türkische Propaganda verbreiten und die autoritäre Wende in der Türkei unterstützen sowie die türkischen Militäreinsätze glorifizieren, auf entschiedene politische Gegenwehr stoßen müssen.
3.3. Der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ)
Der Verband der Islamischen Kulturzentren ist bereits seit den 1980ern etabliert und hat seine Wurzeln ebenfalls in der Türkei. Er vertritt eine Synthese aus dem orthodoxen sunnitischen Islam und dem Sufismus und geht auf die Lehren Süleyman Hilmi Tunahan (1888–1959) zurück. Aufgrund der mystischen Elemente ist der Verband weitestgehend auf die religiöse Binnenkommunikation ausgerichtet und stößt bei anderen sunnitischen Muslim*innen bisweilen auf Skepsis. Aufgrund seiner religiösen Innerlichkeit interagiert der Verband nur wenig mit anderen muslimischen Akteur*innen oder der nicht-muslimischen Außenwelt. Für die islampolitische Debatte ist der Verband daher auch von geringerer Relevanz als etwa DİTİB oder Millî Görüş.
3.4. Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD)
Der „Zentralrat der Muslime“ (ZMD) wurde 1994 unter dem Vorsitz von Nadeem Elyas als Dachverband verschiedener Vereine gegründet. Seine Mitgliederverbände sind ethnisch heterogen. Muslim*innen mit familiären Wurzeln in Albanien, Bosnien, der Türkei, dem Iran und Afrika finden sind in den angeschlossenen Vereinen. Maßgeblichen Einfluss üben aber – neben deutschstämmigen Konvertiten – vor allem arabischstämmige Muslim*innen aus, da beide Gruppen Spitzenpositionen besetzen. Während Sunnit*innen die große Mehrheit stellen, sind auch schiitische Verbände dem Zentralrat angeschlossen. Die Gründung des Zentralrates kann als ein Projekt syrisch- und ägyptischstämmiger Muslimbrüder angesehen werden. Nadeem Elyas war vor seiner Zeit als Zentralrats-Vorsitzender Sprecher des Islamischen Zentrums Aachen (bekannt als Bilal-Moschee), das von dem aus Syrien stammenden Issam al-Attar bereits 1978 gegründet worden war. Lange Zeit spielte die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG), vormals Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD) als Mitgliedsverband, eine tragende Rolle im Zentralrat. Sie gilt als wichtigste Organisation im Netzwerk der Muslimbrüder in Deutschland. Maßgebliche Gründungsfigur der ersten Vorläuferorganisation war Said Ramadan, Schwiegersohn Hasan al-Bannas, des Gründers der Muslimbrüder in Ägypten. Nach immer stärkerer Kritik an der Mitgliedschaft der DMG im Zentralrat lässt die IGD seit Dezember 2019 die Mitgliedschaft im Zentralrat bis zur Klärung der Vorwürfe ruhen, nachdem die Vertreterversammlung des Zentralrats einen entsprechenden Beschluss fasste.
Dem Zentralrat gelang es trotz vergleichsweise geringer Mitgliederzahlen der zugehörigen Moscheeverbände spätestens unter ihrem derzeitigen Vorsitzenden Aiman Mazyek, im öffentlichen Diskurs als prominenteste Stimme des organisierten Islams in Deutschland aufzutreten. Bereits 2002 verabschiedete der Zentralrat die sogenannte „Islamische Charta“, die erklärte, „[z]wischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung“ bestehe kein Widerspruch. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik wird in dem Papier begrüßt und die Errichtung eines Gottesstaates abgelehnt. Problematisch an dem Text ist jedoch, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als „westlich“ bezeichnet wird und unklar bleibt, inwiefern der Zentralrat nicht doch im Grundsatz säkulares Recht dem sakralen Recht unterordnet und daran festhält, dieses in islamischen Mehrheitsgesellschaften staatlich durchsetzen zu wollen und Säkularität als Sondersituation für die Diaspora anzusehen (eine Einstellung, die weltweit im orthodoxen Islam immer noch weit verbreitet ist).
Durch die Suspendierung der DMG und dem Bekenntnis zur säkularen Rechtsordnung hat der Zentralrat Schritte unternommen, sich vom Gedankengut des politischen Islam zu distanzieren. Ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Säkularität steht allerdings noch immer aus. Auch nach der Suspendierung gehören dem Zentralrat problematische Verbände an – die ATIB, die dem Milieu der rechtsextremen Organisation der „Grauen Wölfe“ entstammt und ihr Islamverständnis mit türkischem Nationalismus mischt, sowie dem Islamischen Zentrum Hamburg (IZH), dessen Führung direkt vom iranischen Regime eingesetzt wird, dass das mörderische Assad-Regime in Syrien unterstützt, den sunnitisch-schiitischen Konflikt im Nahen Osten befeuert und dessen Vertreter Israel regelmäßig mit Vernichtung drohen.
Die Politik sollte eine Suspendierung der Mitgliedschaften von ATIB und IZH einfordern. Neben einem Bekenntnis zur säkularen Rechtsordnung in Deutschland sollte der Zentralrat sich auch kritisch mit der eigenen Vergangenheit und der seiner Mitgliedsverbände auseinandersetzen.
3.5. Verbände und Initiativen für einen liberalen Islam
Es gibt auch liberale Muslim*innen, die sich organisieren – etwa im Liberal-Islamischen Bund. Sie stehen für eine andere Interpretation ihrer Religion als die vorherrschende orthodoxe Lesart. Diese Gruppen sind vergleichsweise klein, aber ringen zurecht darum, von der Politik wahrgenommen zu werden und die Dominanz der großen etablierten Verbände (die auch nur eine Minderheit der Muslim*innen aktiv organisieren) aufzuheben.
3.5.1 Der Liberal-Islamische Bund
Der Liberal-Islamische Bund (LIB) e.V. wurde 2010 gegründet. Er hat das Ziel muslimische Bürger*innen zu repräsentieren, die sich mit ihrer liberalen Interpretation des Islams in der öffentlichen Debatte und in der Politik nicht vertreten sehen. Zu diesen liberalen Positionen gehören u.a. Geschlechtergleichheit, Ablehnung der religiösen Pflicht des Kopftuches, Befürwortung von gleichgeschlechtlichen Ehen sowie Frauen als Vorbeterinnen beim Gebet vor Männern. Für das Ausleben der Spiritualität spielen persönliche Lebensentwürfe oder die sexuelle Orientierung keine Rolle. Nach diesem pluralistischen Weltbild darf auch kein exklusiver Wahrheitsanspruch gegenüber anderen Religionen geltend gemacht werden. Muslim*innen sollen Koran und Sunna frei von Angst und nach eigenem Gewissen interpretieren dürfen. Die Eigenverantwortlichkeit der*des einzelne*n Gläubigen steht im Vordergrund. Der LIB setzt sich für eine vernunftorientierte, dogmenbefreite Quellenauslegung unter historischen, kontextuellen und feministischen Kritikpunkten ein. Ein weiteres Ziel stellt die Einführung eines flächendeckenden islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache an öffentlichen Schulen dar. Der Verein besteht aus rund 300 Mitgliedern bundesweit. Standorte der Gemeinden des LIB sind bisher Köln, Frankfurt, Berlin, Stuttgart und Hamburg.
3.5.2 Initiative säkularer Islam
Die Initiative säkularer Islam wurde von einer zehnköpfigen Gruppe – darunter Cem Özdemir – und bekannte Publizist*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft – zum Anlass der Deutschen Islamkonferenz im November 2018 gegründet. Sie tritt für eine weitgehende Trennung von Religion und Politik ein. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit legitimiert ihrer Ansicht nach nicht die Durchsetzung religiöser Normen im öffentlichen Raum. Der Ausbildung islamischer Identitäten oder der Einführung islamischer Regeln in der Schule, auf dem Arbeitsplatz oder in Universitäten wird keine Bedeutung beigemessen. Religion wird als eine private Angelegenheit angesehen und Muslim*innen als mündige Bürger*innen einer demokratischen Gesellschaft, die keine Sonderrechte beanspruchen dürfen.
Religiöse Texte sollten laut der Initiative mithilfe moderner hermeneutischer Verfahren interpretiert werden, um ein zeitgemäßes Islamverständnis zu entwickeln, das mit den Menschenrechten vereinbar ist. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die freie Selbstentfaltung von Kindern und die sexuelle Selbstbestimmung des Individuums stellen wichtige Voraussetzungen für dieses neue Islamverständnis dar. Ein aufgeklärter, demokratiefähiger Islam muss sowohl selbstkritisch als auch offen für Kritik von außen sein.
Die Mitglieder der Initiative sind nicht nur über eine zunehmende Muslim*innenfeindlichkeit, sondern auch über den stärker werden Islamismus besorgt. Der politische Islam wird als eine totalitäre, fundamentalistische Ideologie angesehen, der die Deutungshoheit über den gesamten Islam beansprucht. Ein zeitgemäßer Islam muss daher in jeder Hinsicht unabhängig von ausländischen Regierungen und Organisationen sein. Aufgrund demokratischer Vorbehalte wird die Anerkennung der Islamverbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts abgelehnt.
4. Konsequenzen für den Umgang mit den orthodoxen Islamverbänden
Wir erheben folgende Forderungen:
1. Der Islam in Deutschland muss künftig von Bündnis 90/DIE GRÜNEN stärker in seiner Vielfalt wahrgenommen werden. Grüne sollten daher den Austausch mit liberalen sowie säkularen muslimischen Verbänden und Initiativen intensivieren. Dabei ist zu verdeutlichen, dass die orthodoxen Verbände kein Monopol haben, „den Islam“ in Deutschland zu repräsentieren.
2. Als grüne Partei dürfen wir nicht alle aus muslimisch geprägten Ländern abstammenden Menschen als Muslim*innen wahrnehmen und behandeln. In allen Ländern der Welt – so auch hier in Deutschland – gibt es zahlreiche Nicht-Gläubige, die aus muslimisch geprägten Staaten abstammen. Wenn es zur Diskriminierung dieser Nicht-Gläubigen kommt – ob durch den Staat oder die Gesellschaft, durch Muslim*innen oder Nicht-Muslim*innen, müssen wir uns dem entschieden entgegenstellen. Es ist unerträglich, dass Menschen die Grundrechte – hier die Religionsfreiheit – für sich selbst beanspruchen – ihren Kritiker*innen aber die Nutzung ihrer Grundrechte absprechen und sie so bedrohen, dass sie unter Polizeischutz stehen müssen.
3. Da sich DİTİB in den letzten Monaten und Jahren noch stärker an die türkische Religionsbehörde angelehnt hat und von dieser effektiv kontrolliert wird, erscheint ein tiefgreifender Wandel von DİTİB, bei dem sich die Organisation aus dem Zugriff des türkischen Staates löst, praktisch ausgeschlossen. Fördern sollten wir aber Verbände, die autonom von ausländischem staatlichen Einfluss sind und in denen in Deutschland lebende Muslim*innen die Entscheidungen treffen. Grüne dürfen daher die staatliche Zusammenarbeit mit DİTİB auf allen Ebenen nicht weiter ausbauen. Das schließt einen Austausch mit reformorientierten Moscheegemeinden nicht aus. Bei bestehenden Kooperationen ist deren Einschränkung oder Einstellung zu prüfen, etwa beim islamischen Religionsunterricht oder den Beiräten für die islamische Theologie wie auch die Gefängniseelsorge.
4. Gegenüber den übrigen orthodoxen Islamverbänden wie Millî Görüş sollten Grüne künftig verstärkt kritische Dinge ansprechen, wie es auch gegenüber vielen christlichen Kirchen wie der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen geboten ist. Da die Verbände nach wie vor landsmannschaftlich organisiert sind und die Voraussetzungen zur Anerkennung als Religionsgemeinschaften und als Körperschaften des Öffentlichen Rechts nicht erfüllen, sollten Grüne eine solche Aufwertung des Rechtsstatus auch nicht anstreben. Die Beschneidung von Frauenrechten, religiöse Indoktrination von Kindern und die Diskriminierung und das Unsichtbarmachen von LGBT im religiösen Raum sind genauso anzusprechen wie die internationale Zusammenarbeit der Verbände mit islamischen Organisationen, die den säkularen Staat ablehnen und Menschenrechte unter einen Scharia-Vorbehalt stellen. Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte, müssen von den Grünen gegenüber religiösen Akteuren genauso vehement eingefordert werden wie gegenüber allen anderen Akteuren auch. Der Staat muss, flankiert durch Neutralitätsgesetze – vor allem im Bereich der Justiz sowie im Bildungswesen – uneingeschränkt gewährleisten, dass jede/r Bürger*in die gleichen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten hat. Die Möglichkeiten der freien Entfaltung dürfen nicht rigiden religiösen oder kulturellen Normen untergeordnet werden.
5. Wir lehnen die Gründung und den Betrieb von Auslandsschulen ab, , an denen ohne Einflussmöglichkeit für den deutschen Staat ein patriarchales oder gar antidemokratisches Islamverständnis gelehrt wird Derartige Schulen sollten in Deutschland nicht genehmigt werden.
6. Künftig muss es zum Regelfall werden, dass in Deutschland tätige Imam*innen auch in Deutschland nach den hier geltenden Grundsätzen an Hochschulen ausgebildet werden. Wir wollen nicht, dass von der akademischen Öffentlichkeit isolierte Akademien der großen orthodoxen Verbände oder von geschlossenen Religionsgemeinschaften wie der Ahmadiyya die Imam-Ausbildung dominieren. Imame, die wirtschaftlich und logistisch von autoritären Regimen abhängig sind, passen nicht in eine demokratische Gesellschaft.
Bündnis 90/DIE GRÜNEN wollen die Imam*innen-Ausbildung hierzulande nach demokratischen und rechtsstaatlichen Vorgaben unterstützen. Diese Förderung muss aber grundgesetzkonform erfolgen und politisch sinnvoll sein.
Dies heißt im Einzelnen:
6.1. Eine Imam*innen-Ausbildung bedarf Moscheegemeinden und -verbände als Partner, die gewillt sind, die Imam*innen künftig im Gottesdienst einzusetzen. Für eine solche Kooperation kommen nur Verbände in Frage, die Demokratie und Pluralismus respektieren und den Islam als Teil der deutschen Gesellschaft verstehen. DİTİB erfüllt dieses Kriterium zweifellos nicht.
6.2. Eine Finanzierung der Anstellung von Imam*innen durch den deutschen Staat lehnen wir ab – dies widerspräche dem grundgesetzlichen Gebot, Religion und Staat zu trennen. Die Verbände müssen die Imam*innen langfristig selbst finanzieren. Um die Etablierung der in Deutschland ausgebildeten Imam*innen zu befördern, sollen sich Grüne für eine nichtstaatliche Anschubfinanzierung einsetzen, die beispielsweise durch deutsche private Stiftungen gewährt werden kann.
6.3. Für die Ausbildung der Imam*innen kann zunächst auf die bereits etablierten Strukturen für islamische Theologie an staatlichen Hochschulen zurückgegriffen werden. Dabei ist die Freiheit von Forschung und Lehre gemäß Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz vollgültig zu beachten. Wir fordern aber auch eine Einbindung der nicht-konfessionellen Islamwissenschaft, um angehenden Imam*innen auch eine kritische, nicht-konfessionelle Perspektive auf den Islam zu vermitteln.
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