Das Münchner Missbrauchsgutachten hat die Republik aufgerüttelt. Es zeigt, dass die Kirchen nicht in der Lage oder nicht willens sind, mit ihrer Missbrauchsgeschichte gründlich aufzuräumen. Es scheint, als wären die Kirchenoberen nicht einmal in der Lage, sich in die Missbrauchsopfer hineinzuversetzen und deren Perspektive einzunehmen. Empathie geht anders!
Oder nehmen wir die Äußerung von Kardinal Marx, dass es in der Vergangenheit niemanden in der Kirche wirklich interessiert habe, was geschehen sei und in welcher Lage die Missbrauchsopfer seien.
Ging es in der Vergangenheit etwa vorrangig darum in Sachen Missbrauch durch Geistliche innerkirchliche Sanktionen wegen der Verletzung des Keuschheitsgebotes (milde) zu sanktionieren als darum, Opferschutz zu praktizieren und staatliche Untersuchung und Verfolgung von Straftaten zu ermöglichen. Es sieht ganz danach aus.
Die Säkularen Grünen fordern anlässlich der bekanntgewordenen Horrorsezenarien und der jahrzehntslangen Vertuschung der Sexualdelikte an Kindern und Jugendlichen, jetzt umgehend die im Ampel-Koalitionsvertrag vorgesehene Reform des „Religionsverfassungsrechts“, des Verhältnisses Staat und Kirchen, in Angriff zu nehmen.
Die Menschen in Deutschland müssen erkennen können, dass das kirchliche Fehlverhalten auch Konsequenzen hat. Jetzt muss auf diesem Gebiet Führung gezeigt werden.
Im folgenden veröffentlichen wir ein Schreiben der beiden Sprecher*innen der BAG Säkulare Grüne an sämtliche grünen Bundestagsabgeordneten, in dem zur zügigen Aufnahme des Reformprozesses aufgerufen wird.
Schwerpunkte der Sofortmaßnahmen sollen sein:
- Aufklärung des sexuellen Missbrauchs nicht den Kirchen überlassen
- § 219a Strafgesetzbuch abschaffen
- Historische Staatsleistungen ablösen
- Reform des kirchlichen Arbeitsrechts sofort beginnen – Betriebsverfassungsgesetz und Allgemeines Gleichstellungsgesetz ändern!
Stellungnahme der BAG-Sprecher*innen:
An die Abgeordneten der Fraktion von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag
Schaffung eines neuen Religionsverfassungsrechts
umgehend auf die Tagesordnung setzen!
In einer mutigen und entschlossenen Aktion haben sich jetzt 125 Mitarbeiter*innen der katholischen Kirche als queer geoutet und ein Ende ihrer Diskriminierung als Beschäftigte und als Menschen gefordert. Unter ihnen sind Priester, Gemeinde- und Pastoralreferent*innen, Religionslehrer*innen, aber auch Beschäftigte aus der kirchlichen Verwaltung. Die BAG Säkulare Grüne begrüßt und unterstützt diese beispiellose Initiative. Die Initiative „#OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst“ hat bereits innerhalb allerkürzester Zeit die Unterstützung von 30 katholischen Organisationen sowie dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken erhalten.
Bündnis 90/Die Grünen kann sich als Partei des Schutzes vor Diskriminierung nicht auf bloßes Bedauern und unverbindliche Solidaritätserklärungen beschränken. Wir dürfen uns nicht durch den Hinweis auf Neutralität des Staates in theologischen Fragen vor dem Schutz von Menschen in Not herumdrücken. Dabei besteht auch kein Zweifel daran, dass kircheninterne Reformen für die Behebung der eklatanten Missstände nicht ausreichen. Das intransparente Geflecht rechtlicher Sonderregelungen für die Kirchen leistet einen maßgeblichen Beitrag zum Schutz der Institution vor den legitimen Ansprüchen der Betroffenen. Dieses Sonderrecht aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 ermöglicht erst die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare und anderer Menschen, die der amtskirchlichen Sexualmoral widersprechen. Wenn sogar der Papst ungestraft lügen darf, auf welchen Wahrheitsanspruch begründet sich der kirchliche Anspruch auf Herabsetzung der persönlichen Grund- und Freiheitsrechte?
Nicht zuletzt der Einbruch der Mitgliederzahlen der ehemaligen Volkskirchen macht das bisher nach einer Scham-Pause übliche „Weiter so“ im Verhältnis von Staat und Kirchen unmöglich. Erstmals seit der Durchsetzung des Christentums gehören in diesem Jahr hierzulande weniger als die Hälfte der Menschen der römisch-katholischen Kirche oder der evangelischen Kirche an. Über 40 Prozent der Menschen sind mittlerweile konfessionsfrei, mit stark steigender Tendenz.
Das Verhältnis des Staates zu den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gehört in seiner Gesamtheit auf den Prüfstand. Die Zeit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften als halbstaatliche Organisationen mit einer privilegierten rechtlichen Sonderstellung ist vorbei. Sie haben ihren Platz in der Zivilgesellschaft, und nur dort!
Der Koalitionsvertrag mit SPD und FDP hat sich in kluger Einsicht die Überwindung des abgewirtschafteten „Staatskirchenrechts“ aus der Weimarer Verfassung auf die Fahnen geschrieben. Er eröffnet mit der Forderung nach einem neuen „Religionsverfassungsrecht“ Perspektiven für die anstehende Reformarbeit.
- Aufklärung nicht den Kirchen überlassen!
Während die katholische Kirche schwule und lesbische Partnerschaften kirchenrechtlich verdammt und arbeitsrechtlich mit Sanktionen belegt, bietet der Klerus mit dem emeritierten Papst an der Spitze beim Umgang mit sexualisierter Gewalt in ihren eigenen Einrichtungen ein Bild von Vertuschung und Kaltherzigkeit gegenüber den Opfern. Auch in der evangelischen Kirche läuft die Aufarbeitung nicht besser. Der Beirat mit Betroffenen wurde kurzerhand aufgelöst. Staatliche Stellen schauen währenddessen lieber weg, als sich hinter die Opfer und gegen die Täter und ihre Hierarchien zu stellen.
Wir teilen die Forderung des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, die im Jahr 2016 berufene Aufarbeitungskommission durch eine gesetzliche Grundlage zu stärken und ihr Kontroll- und Beratungsrechte zu übertragen. In jedem Fall muss die herrschende Kultur des Wegschauens umgehend ein Ende haben (Beschluss der BAG vom 11.12.2021, Sexualisierte Gewalt in religiösen Institutionen konsequent aufklären und zukünftig verhindern).
- § 219a Strafgesetzbuch
Wir begrüßen nachdrücklich, dass eine alte säkulare Forderung nach Streichung des Verbots der Information über Schwangerschaftsabbruch nach § 219 a StGB bereits so kurz nach der Regierungsbildung in Angriff genommen wurde. Die Entmündigung der Frauen und ihre Rollenzuweisung als Hausfrau und Mutter ist seit jeher Merkmal klerikaler Gesellschaftspolitik. Es ist ein großartiges Aufbruchssignal, dass die Koalition hier mit ihrer Reformarbeit beginnt.
- Ablösung der historischen Staatsleistungen
Mit der Ablösung der (historischen) Staatsleistungen und der Überprüfung der Diskriminierung der 1,4 Millionen Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen sind im Koalitionsvertrag zwei weitere konkrete Reformprojekte genannt. Bei den Staatsleistungen muss die Koalition nicht einmal von Null anfangen. Bereits in der vergangenen Wahlperiode hatten Grüne gemeinsam mit Linken und FDP einen Gesetzentwurf im Bundestag eingebracht.
Die BAG Säkulare Grüne plädiert mit Nachdruck dafür, auf die geäußerten Einwände der Bundesländer zur Höhe der Ausgleichsleistungen an die Kirchen Rücksicht zu nehmen und die von den Bundesländern zu zahlenden Geldbeträge gegenüber dem Gesetzentwurf aus der vergangenen Legislaturperiode deutlich abzusenken. Die Ablösung muss zudem innerhalb eines Jahrzehnts nach Inkrafttreten des Bundesgesetzes abgeschlossen sein. Bei deren Neuberechnung sind auch die bisher gezahlten Entschädigungsleistungen seit 1949 in Höhe von umgerechnet rund 19 Mrd. Euro zu berücksichtigen. Diese Entschädigungsforderungen bestehen größtenteils seit den Napoleonischen Kriegen, teilweise sogar seit der Reformation. Sie müssen Jahr für Jahr von den Steuerzahler*innen aufgebracht werden, ob sie nun einer begünstigten Kirche angehören oder nicht.
Wir plädieren dafür, die beiden großen christlichen Kirchen zu einem Verzicht auf weitere Entschädigungen aufzufordern. Wenigstens ein Teil der freien Mittel könnte dann den vielen Opfern sexualisierter Gewalt zu Gute kommen, statt sie für den kirchlichen Verwaltungsapparat zu verwenden.
- Reform des kirchlichen Arbeitsrechts
Die Kirchen sind nach dem Staat die größte Arbeitgeberin im Land. Die Beschäftigten sind gegenüber ihren Kolleg*innen in den karitativen und sozialen Einrichtungen anderer Träger Mitarbeiter*innen zweiter Klasse. Die Beschäftigten müssen sich sogar in ihren Arbeitsverträgen den Moralvorstellungen der Kirchenleitungen unterwerfen, ansonsten droht ihnen die Entlassung. Von daher ist die Koalitionsvereinbarung zum besseren Schutz der Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen von herausragender Bedeutung für die Betroffenen. Bündnis 90/Die Grünen hat sich bereits im Wahlprogramm zur Bundestagswahl klar dafür ausgesprochen, dass „das kirchliche Arbeitsrecht reformiert und die gewerkschaftliche Mitbestimmung gefördert […] sowie die Ausnahmeklauseln für die Kirchen im Betriebsverfassungsgesetz und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgehoben werden“. Die Herausnahme der Beschäftigten kirchlicher Einrichtungen aus dem Schutz des Betriebsverfassungsgesetzes durch die Regelung in § 118 Abs. 2 BetrVG muss endlich gestrichen werden. Novelliert oder aufgehoben werden muss auch § 9 Antidiskriminierungsgesetz, der den Kirchen eine religiös motivierte Schlechterstellung von Arbeitskräften erlaubt.
Unsere grüne Beschlusslage liegt ganz auf der Linie des Europäischen Gerichtshofs, der bereits mehrfach religiös motivierte Übergriffigkeiten der Kirchen auf das Privatleben ihrer Beschäftigten verworfen hat. Wir erwarten von der Bundestagsfraktion, dass sie zügig die grundlegende Reform des kirchlichen Arbeitsrechts gemeinsam mit den Koalitionspartnern auf den Weg bringt.
24.01.2022
Mit bündnisgrünen Grüßen
Hannah Wettig Walter Otte
BAG-Sprecherin BAG-Sprecher
Die Position der BAG Säkulare Grüne zum „Sexuellen Missbrauch in Religionsgemeinschaften findet sich hier: https://saekulare-gruene.de/sexualisierte-gewalt-in-religioesen-institutionen-konsequent-aufklaeren-und-zukuenftig-verhindern-bag-beschluss-vom-11-12-2021/
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