Religiös motivierte Beschneidung von Jungen – 10 Jahre gesetzliche Beschneidungserlaubnis – und kein Ende in Sicht. Initiative wendet sich an Bundeskabinett und Bundestagsabgeordnete: Beschneidungserlaubnis (§ 1631d BGB) abschaffen!

10 Jahre ist es mittlerweile her, dass von der Mehrheit des Bundestags eine gesetzliche Regelung geschaffen wurde, die es erlaubt, aus religiösen Gründen eine medizinisch nicht indizierte Vorhautbeschneidung bei Jungen vorzunehmen. Der neue § 1631d BGB war eine Reaktion auf ein Urteil des Kölner Landgerichts, das die von den Eltern aus religiösen Gründen initiierte Beschneidung als Straftat (Körperverletzung) bewertete.

Die Säkularen Grünen haben sich von Anfang an – seit ihrer Gründung 2013 – gegen den § 1631d BGB ausgesprochen. Innerhalb Bündnis 90/Die Grünen ist dafür allerdings nach wie vor keine Mehrheit in Sicht. Nicht einmal eine zwischenzeitlich überlegte Evaluierung des Gesetzes wurde vorgenommen. Umso wichtiger sind gesellschaftliche Initiativen, die dieses Thema aufgreifen.

Hinweis: Die BAG Säkulare Grüne ist Mitglied im Bündnis für genitale Selbstbestimmung https://genitale-selbstbestimmung.de/liste-der-unterstutzenden-organisationen-2022/

Offener Brief an Bundesregierung und Bundestagsabgeordnete / Dezember 2022:

Kinderschutz, Selbstbestimmung und Gleichstellung umsetzen:
die „Beschneidungserlaubnis“ § 1631d BGB abschaffen!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
sehr geehrter Herr Minister Dr. Buschmann,
sehr geehrte Frau Ministerin Paus,
sehr geehrter Herr Minister Professor Lauterbach,
sehr geehrte Mitglieder des Bundeskabinetts,
sehr geehrte Abgeordnete des demokratischen Spektrums im Deutschen Bundestag,

seit nunmehr zehn Jahren gilt in Deutschland mit § 1631d BGB eine Vorschrift, die einen elementaren rechtlichen Schutz männlicher Kinder beseitigt hat. Die Eltern sollen veranlassen dürfen, dass ihrem Jungen die gesunde Penisvorhaut abgeschnitten wird.

Der Deutsche Bundestag hat diese Entscheidung am 12.12.2012 gefällt, bekanntlich
− trotz der Risiken und Komplikationen, die mit der medizinisch nicht notwendigen Amputation des sexuell sensibelsten Teils des Gliedes nachweislich verbunden sind,
− gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung,
− gegen die ausdrücklichen ärztlichen Empfehlungen der zuständigen medizinischen Fachgesellschaften,
− gegen den Protest von Kinderschutz-, Frauenrechts- und Betroffenenorganisationen.
Sogar die übliche Evaluation des Gesetzes nach fünf Jahren wurde explizit abgelehnt.

Die Bilanz fällt desaströs aus:
− Patriarchale Verletzungs- und Unterwerfungsrituale und eine empathielose
Tolerierung des Rechtes des Stärkeren im Umgang mit den schwächsten
Mitgliedern unserer Gesellschaft sind seitdem gesetzlich legitimiert.
− Zum ersten Jahrestag der Entscheidung konstatierten sieben Verbände bei
einer Pressekonferenz in Berlin, das Gesetz sei gescheitert: Weder sei die
Betäubungsproblematik gelöst, noch die verletzten Rechte des Kindes auf
körperliche, psychische und sexuelle Unversehrtheit adäquat berücksichtigt worden,
schon gar nicht „vorrangig“, wie Art. 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention es mit Gesetzeskraft einfordert.
− § 1631d BGB führt zur Nichtaufnahme und Einstellung von Strafverfahren trotz dokumentierter Missachtungen gesetzlicher Vorgaben für Operationen
(z.B. Nürnberg 2019) – also genau bei Fällen, die man mit Einführung der Erlaubnis verhindern wollte.
− Wir alle wissen: Vorhautentfernungen ohne strenge medizinische Indikation verursachen unnötiges Leid! Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie stellte
zudem fest: Jährlich müssen ca. 400 Jungen aufgrund von Komplikationen
stationär nachbehandelt werden.
− Es kommt vermehrt zu Schadensersatzverfahren von Betroffenen, die unter den körperlichen, psychischen und sexuellen Folgen einer frühkindlichen Vorhautabtrennung leiden.
− Entstanden ist ein gesetzliches Chaos: Mit §§ 226a StGB, 1631d BGB und 1631e BGB
gelten mittlerweile drei verschiedene Regelungen, die Kindern – je nach genitaler
Ausstattung bei Geburt – völlig unterschiedliche Schutzrechte an ihren Genitalien zuoder aberkennen.

Eine weltweit einmalige Situation.
− Bedenken Sie bitte, dass die neu geschaffene Nachbarvorschrift, der § 1631e BGB, bestimmt: „In operative Eingriffe an den inneren oder äußeren
Geschlechtsmerkmalen des nicht einwilligungsfähigen Kindes … können die
Eltern nur einwilligen, wenn der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten
Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann“. Dagegen verhindert § 1631d BGB
in puncto Aufschiebbarkeit des Eingriffs aktiv die Gleichstellung und vereitelt damit ausschließlich fürs Abschneiden der Penisvorhaut, dass der Betroffene selbstbestimmt entscheidet.
− § 1631d BGB schwächt den Kampf gegen die Mädchenverstümmelung: Gesetzeskommentatoren sehen sich vom Gleichbehandlungsgebot gezwungen,
§ 1631d BGB in analoger Anwendung auf weniger invasive Formen von Zwangseingriffen
an der Vulva zu erstrecken; Legitimationsversuche der
Mädchenverstümmelung verweisen auf Deutschland, wo das Abtrennen erogener Zonen von Kindern gesetzlich erlaubt sei.
− Die von § 1631d BGB erlaubten Penisvorhautentfernungen erschweren in
erheblicher Weise eine von manchen trans* Personen später erstrebte
operative Genitalangleichung – und wirken freiheitseinschränkend.
− Renommierte Stimmen des juristischen Schrifttums stufen § 1631d BGB (in mehrfacher
Hinsicht) als verfassungswidrig ein.

Aus den Reihen derer, die § 1631d BGB rechtfertigten, war 2012 häufig zu vernehmen, dass die
Debatte zu diesem Thema weitergehen müsse. Leider hat es keine weitere öffentliche politische
Debatte gegeben.

Fachwelt und Zivilgesellschaft hingegen haben die Arbeit dazu fortgesetzt:

– Ärztliche Fachgesellschaften stellten 2017 und erneut 2022 in den Medizinischen Leitlinien „Phimose und Paraphimose“ den aktuellen Wissensstand zu Anatomie, elementaren sexualsensorischen Funktionen und zur Behandlung von Erkrankungen der Penisvorhaut vor. Dies verdeutlicht, wie ernsthaft sich die Medizin auch ihrer eigenen Verantwortung stellt, zu häufige und vorschnelle Operationen bei Kindern zu vermeiden.


− Vorschläge für rechtliche Übergangsregelungen liegen seit Jahren vor, etwa von der
Fachtagung „Jungenbeschneidung in Deutschland“ an der Universitätsklinik Düsseldorf
2017.
− Der jährlich am 7. Mai begangene „Weltweite Tag der Genitalen Selbstbestimmung“ sowie die universitären Fachtage in Köln 2014, Düsseldorf 2017 und Mainz 2022 stellen
Ihnen als politisch Verantwortliche eine große Zahl frei
verfügbarer internationaler Zeugnisse von Betroffenen und Fachleuten in
Medizin, Recht und Religion als Grundlage für Ihr Handeln zur Verfügung.
− Immer mehr Betroffenen wird bewusst, was ihnen genommen wurde und
welche physischen und psychischen Probleme dadurch entstanden sind. Sie melden sich
in zahlreichen Formaten und sind auch in Medien zu hören. Jüngst haben ARTE und ARD
eindrückliche Dokumentationen hierzu ausgestrahlt.


Die Zivilgesellschaft hat also vorgelegt und dabei gezeigt, dass eine angemessen sachliche Behandlung des Themas im Sinne des Kinderschutzes möglich ist.


Nun ist es an Ihnen, sehr geehrte Abgeordnete,
nehmen Sie bitte die Faktenlage zur Kenntnis und beenden Sie diese ethisch,
medizinisch, verfassungsrechtlich und vor allem aus Sicht der leidvoll Betroffenen
unerträgliche Situation:
− Schaffen Sie § 1631d BGB ab! Kehren wir in Deutschland zurück zum
uneingeschränkten und in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Recht des
Kindes auf körperliche Unversehrtheit und eine gewaltfreie Erziehung – und zwar unabhängig vom Geschlecht.
− Initiativen zur Abschaffung geschlechtsspezifischer Diskriminierungen, zu Selbstbestimmung und zum Recht über den eigenen Körper werden auf politischer Ebene permanent
diskutiert – auch in der aktuellen Bundesregierung. Diese wichtigen Initiativen dürfen
aber nicht weiterhin die Jungen
insoweit schutzlos lassen, als das Abschneiden ihrer erogensten Zonen
erlaubt bleibt.
− Wie bereits 2012 von vielen Organisationen vorgeschlagen wurde, brauchen wir einen
„Runden Tisch“, um mögliche Wege zur konkreten Umsetzung des Kinderschutzes und
der empathischen Achtung der Intimsphäre auch von Jungen gemeinsam zu erarbeiten.
− Staatlich geförderte Aufklärung wie in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung muss endlich nach aktuellem Wissensstand erfolgen.
− Wir brauchen geförderte Forschung zum Thema „Genitale Selbstbestimmung“ für alle
Kinder.

Dafür tragen Sie auf gesetzgeberischer Ebene Verantwortung.

Vor uns liegt ein anspruchsvoller, aber lohnender Prozess, an dem alle gesellschaftlich relevanten Kräfte mit ihren jeweiligen Kompetenzen zu beteiligen sind.

Ziel kann nur sein: Gleicher Schutz ausnahmslos aller Kinder in ihren Rechten auf
Genitale Selbstbestimmung und auf eine offene Zukunft.


Prof. Dr. Matthias Franz, Universitätsklinikum Düsseldorf
Prof. Dr. Jörg Scheinfeld, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Prof. Dr. Maximilian Stehr, Cnopfsche Kinderklinik, Nürnberg
Eldad Stobezki, mutatis mutandis, Frankfurt am Main
Victor Schiering, Vorsitzender MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene
Erstunterzeichnende Personen:
Prof. Dr. Matthias Franz, Psychoanalytiker, Universitätsklinikum Düsseldorf
Prof. Dr. jur. Jörg Scheinfeld, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Direktor Institut für
Weltanschauungsrecht
Prof. Dr. Maximilian Stehr, Cnopfsche Kinderklinik, Nürnberg
Eldad Stobezki, mutatis mutandis, Frankfurt am Main
Victor Schiering, Vorsitzender MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene
Dr. Helmut Jäger, Vorstand pro familia Niedersachsen e. V.
Dr. Ute Sonntag, Vorstand pro familia Niedersachsen e. V.
Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie e. V.
Deutsches Kinderbulletin – jedem Kind ein Chance / Politische Kindermedizin
Dr. Thomas Fischbach, Präsident BVKJ – Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V.
Prof. Dr. jur. Holm Putzke, Universität Passau
Prof. em. Dr. jur. Rolf Herzberg, Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. jur. Tonio Walter, Universität Regensburg, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht
PD Dr. Stefan Schick, Philosoph, Universität Leipzig
Prof. Dr. jur. Hans-Ullrich Paeffgen, Universität Bonn
Dr. Christoph Kupferschmid, Kinder- und Jugendarzt, Ulm
Dr. Ludwig Janus, Vorstand Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie
Prof. Dr. Ulrich Egle, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Vorsitzender Interdisziplinäre Gesellschaft für Psychosomatische Schmerztherapie (IGPS)
Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke, Psychoanalytikerin, Universität Mainz
Prof. Dr. Gisela Zenz, Rechtswissenschaftlerin, Psychoanalytikerin, Goethe-Universität
Frankfurt am Main
Dr. Necla Kelek, Soziologin, Publizistin
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Dieter Adam, München
Dr. Hanna Rheinz, Publizistin
Dr. Michael Schmidt-Salomon, Philosoph, Vorstand Giordano-Bruno-Stiftung
Prof. Dr. Rüdiger Seitz, Facharzt für Neurologie, Universitätsklinikum Düsseldorf
Prof. Dr. Rainer Krause, Psychoanalytiker, em. Lehrstuhlinhaber Univers. des Saarlandes
Prof. Dr. Christiane Waller, Fachärztin für psychosomatische Medizin, Klinikum Nürnberg,
Vize-Präsidentin Deutsches Kollegium für psychosomatische Medizin
Dr. Christian Bahls, Vorstand MOGiS e. V. – Eine Stimme für Betroffene
Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher, Philosoph, Ethiker, Universität Düsseldorf
Dr. Rainer Böhm, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Publizist
Prof. Dr. Paul Janssen, Psychoanalytiker, em. Lehrstuhlinhaber Psychosomatische Medizin
Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. Godula Kosack, Vorsitzende TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau
e. V., Soziologin, Universität Marburg
Dr. med. Wolfgang Bühmann, Facharzt für Urologie
Marlene Rupprecht, SPD, ehem. Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestages
Prof. Dr. Hartmut Kreß, Bonn
Prof. Dr. Eva Rass, Honorarprofessorin Universität Mannheim, Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, Autorin
Dr. jur. Klaus-Henning Lemme, SPD, Staatsekretär a. D. des Bundeslandes Niedersachsen
Matthias Sonnenburg, Analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Vorsitzender Gesellschaft für frühkindliche Bindung
Dr. Irmgard Paffinger, Vorsitzende Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Dr. med. Frank-Mattias Schäfer, FEAPU, Oberarzt, Nürnberg
Prof. Dr. jur. Horst Schlehofer, Universität Düsseldorf
Dr. med. Julia Fries, Ärztin der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung e. V.,
Frankfurt am Main
Dr. rer. biol. hum. Hans Hopf, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut (Verfasser von
„Die Psychoanalyse des Jungen“)
Stefan Beier, Diplom Soziologe, Vorstand Agentur für Männer eG
Dr. Meike Beier, Vorsitzende intaktiv e. V. – eine Stimme für Genitale Selbstbestimmung
Walter Sittler, Schauspieler
Dr. med. Bernhard Stier, Beauftragter für Jungenmedizin/Jungengesundheit BVKJ e. V.,
Hamburg

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