Selbstbestimmung

von Werner Hager

3. Juni 2019

Liberalismus, aber auch Faschismus, reflexive Moderne wie moderne Antimoderne gehören zu Europa, wenn unter diesem seltsamen Sprachkonstrukt des „Zusammengehörens“ die gemeinsame Geschichte der EuropäerInnen zu fassen ist.

Doch die Vorgeschichte dieses Europas in der Moderne, ist zuerst ein – immer noch unvollständiger – Bruch mit der Tradition, feudalen Systemen, in denen das Mitmischen eine größere Rolle spielte als die Idee einer Selbstbestimmung und in denen annähernd jeder einen Lehnsherren besaß.

Die Antike hingegen kannte ein Konzept der Autonomie. Dieses ist Gegenpol zur Heteronomie. Autonomie ist ein sehr einfaches Konzept: Eine Entscheidung von A ist autonom von B, wenn B nicht bestimmen kann, was A tut. A ist frei in seiner Entscheidung.

Die antiken Bürger der Polis-Städte empfanden sich aufgrund ihrer Unabhängigkeit auch von Naturbedingungen als diejenigen Wesen der Natur, welche diese reflektieren und gestalten konnten. Dies schloss zu diesem Zeitpunkt noch einen Großteil der Menschen aus. Ohne mit den Vorstellungen ihrer Götterwelt unbedingt gänzlich zu brechen, brachen sie immer größere Teile ihrer Welt aus der mythischen Vorgeschichte heraus, empfanden sie als ihr eigenes Werk. Dazu gehörte eben auch die Einrichtung ihrer Polis-Gesellschaften, die sie als Werk gleicher Aktivbürger empfanden (Isonomie) und über deren beste Form sie stritten (* Isonomie war Grundlage sowohl demokratischer wie aristokratischer und monarchischer Regierungsformen. Isonomie bedeutet insofern keinesfalls bereits Demokratie.). Sie legten viel Wert auf die Unabhängigkeit ihrer Städte von antiken Großreichen, kooperierten aber in Städtebünden.

Insofern hat die Debatte über Selbstbestimmung immer eine das Subjekt wie eines das Gemeinwesen betreffende Komponente. Mit dem Christentum und überhaupt den Monotheismen tritt eine – universalistische – Vorstellung einer objektiven Welt hinzu. Hier ist der Singular wichtig, denn die Menschen sehen sich selbst als abhängiger Teil eines großen Systems. Freilich ist im Mittelalter die Herrschaft der beiden Schwerter (Kaisertum und Papsttum) eher schwach, ein komplexes Feudalsystem mit wechselseitigen Abhängigkeiten und teils einer schriftlichen, teils einer mündlichen Vertragskomponente ist Legitimationsbasis für das über Jahrhunderte bestimmende Lehnssystem.

Frei bleibt das antike Erbe: Die Stadtstaaten des Mittelmeeres, Reste der antiken Bildungstraditionen, Kenntnis politischer Theorie und der römischen Republik.

„Est igitur … res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus“- „Es ist also … das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.“[7] (*Wikipedia-Übersetzung)

Gipfelnd in der Renaissance kehrt die Antike zurück und wird sogar übertroffen. In diese Zeit fällt der Wechsel zur Zentralperspektive und die Idee der Volkssouveranität. Der Wechsel zur Zentralperspektive verlegt den Blickpunkt von einem objektiven göttlichen Standpunkt in den Menschen, über den nun das göttliche vermittelt ist. Gott ist nun auch im Menschen, das Individuum ist entstanden. Ein auch theologischer Schritt, der im Christentum möglich war, aber keinesfalls selbstverständlich ist. Politisch hatte bereits 1320 Marsilius von Padua im Versuch der Eingrenzung päpstlicher Macht die Unabhängigkeit der weltlichen Politik vom Papsttum erklärt.

Machiavelli entwickelte ein Verständnis von Politik, welches Politik aus seiner eigenen Gesetzmäßigkeit erklärte. Thomas Hobbes forderte nach dem englischen Bürgerkrieg den sterblichen Gott eines Leviathans als Garanten des Friedens zu schaffen, um die Kämpfe religiöser Bürgerkriegsgruppen einzugrenzen. Der französische Absolutismus löste sich dann mit der Konzeption des französischen Rationalisten Jean Bodin vom Konzept eines erst durch den Papst legitimierten Königtums. Im französischen Staat sollten Menschen hugenottischen und katholischen Glaubens gleichermaßen unter einem direkt von Gott eingesetzten Monarchen leben können.

Diese Entwicklung stammt jedoch nicht nur aus der Renaissance: Neben dem griechisch-antiken Erbe wurde aus der Antike eben auch das systematisch hoch entwickelte römische Recht übernommen. Ein Recht, welches eben für Anhängerinnen und Anhänger von Paganismus und Christentum immer gleichermaßen gegolten hatte.

Mit immer stärkerer Wucht erschüttern nun Forderungen nach gleichen Freiheitsrechten der Individuen, Ausweitungen des Bürgerbegriffes und auch der Ersetzung der Monarchie durch eine Republik, die traditionellen Herrschaftssysteme. Die Republik ist hier wiederum ein zentraler Knackpunkt: Ihre Institutionen sind nämlich unabhängig von der Religion, auch wenn die Bürgerinnen und Bürger religiös sind, so müssen sie als auch ausgebildete Staatsbürger*innen unabhängig von fremdbestimmten religiösen Dogmen entscheiden können.

Ich habe nun eine recht antik-europäische Geschichte von Selbstbestimmung und Souveranität aufgezeigt. In dieser kommt eines nicht vor: Die Vorstellung nationaler Selbstbestimmung. Anders als bei älteren Vorstellungen von Souveränität tritt hier zuerst in Europa einerseits ein Ideal von Gleichheit der Staaten im Kontext eines Staatenrechtes hinzu, welches sich in Opposition zu bestehenden Imperien befanden. Andererseits entstehen nationale Kollektive, die anders als die republikanischen Konzepte keinen universellen Anspruch mehr besitzen.

Eine katastrophale Bewegung, die sich im frühen 20. Jahrhundert zu einem weltweit ausbreitenden Ideal ethnischer Homogenität entwickelt.

Mit diesem historischen Ansatz will ich andeuten, dass der Liberalismus, der auf dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen aufbaut, zu kurz greift. Er tut so, als hätte seine Entwicklung nichts mit der Gestaltung des politischen Gemeinwesens zu tun, meint optimistisch keine Aktivbürger*innen zu benötigen. Andersrum missachtet der Kommunitarismus individuelle Rechte. Die antiken und europäischen Debatten, bei denen Selbstbestimmung eindeutig auf der Seite des weltgesellschaftlichen Fortschrittes stand, lösten die politischen Strukturen aus der Abhängigkeit von religiösen Institutionen und Moralvorstellungen, ermöglichten ein Handeln vom Standpunkt der tatsächlichen Welt.

Die heutigen Kämpfe um nationale oder regionale Selbstbestimmung erweisen sich als nationale Chauvinismen, häufig sogar mit faschistischen Tendenzen. Hier lohnt eine Erinnerung an die klassische linke Debatte von Karl Marx Charakterisierung der irischen Frage als der letzten progressiven Nationalbewegung sowie Rosa Luxemburgs Bemerkungen zur Nationalitätenfrage in Österreich-Ungarn.

Jetzt will ich die Frage stellen, was richtig an der Konzeption nationaler oder regionaler Selbstbestimmung ist. Tatsächlich träte nämlich ein Problem auf, wenn eine Funktionseinheit rein abhängig von den anderen Teilen des Systems wäre. Hier bietet die Konzeption der reflexiven Moderne aber einen guten Ansatz: Grundsätzlich sollen alle Einheiten miteinander kommunizieren und interagieren. Dies trifft auch die Subjektwerdung. Die interpersonelle Prüfbarkeit ist eine wichtige Voraussetzung für eine wieder wahrheitsorientierte Politik, in der sich selbst als handelnde Akteure und damit Individuum begreifende Subjekte ihre Zukunft gemeinsam individuell selbstbestimmt gestalten.

Diese Welt ist aber anders eingerichtet: Ihre Entwicklung verläuft ungleichmäßig, Weltregionen sind abgehängt und auch im Zentrum wird die Gesellschaft nur modernisiert, also letztlich autoritär verwaltet.

Hiermit korrespondiert auch die Subjektwerdung. Es ist kein Wunder, dass hierbei der Ruf nach esoterischen und anderen alten und neuen Formen außerweltlicher Erklärungen, Deutungen und Troststiftungen entsteht. Nationalismus war noch nie ein Bruch mit religiösen Formen, kann sich aber hervorragend mit anderen nichtweltlichen Vorstellungen verbinden, um Menschen und ihre Handlungsmöglichkeiten abzuwerten.

Die Verweigerung der rein instrumentellen Vernunft, auf der Autoritarismus und Naturbeherrschung fußen, gehören zum Fundus bereits der entstehenden grünen Bewegung. Selbstbestimmung heißt eben nicht, sich alleine der instrumentellen Vernunft und der Verzweiflung hinzugeben, sondern aktiv mitzumischen. Und hier schließt sich der Kreis mit einer Antike, in der Menschen begannen, Mythos und Logos zu unterscheiden, Individuen in Gesellschaften begannen zu werden.

Doch für uns ist Natur kein äußeres, unser Politikverständnis dreht sich nicht nur um die Gestaltung einer von der Natur getrennten Gesellschaft, geschweige denn begrenzt es sich auf einen nichtprivaten Raum.

Selbstbestimmung erfordert, keine falsche Trennung von Natur und Gesellschaft vorzunehmen und dem herrschaftsförmigen Charakter dieses Verhältnisses entgegen zu treten. Unter Nutzung der Techniken dieser Gesellschaft ihren Charakter zu ändern. Und dies in Zeiten ungeheurer neuer biotechnologischer und wissenschaftlicher Möglichkeiten. Einem Jetzt, in dem Menschen lernen müssen, ihr reales und ihr digitales Leben selbstbestimmt leben zu können. Und in der zu lange die Utopie einer Fortsetzung der Lebensstile längst untergegangener einfacher Jahrzehnte versprochen wurde.

ENDE

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