Verfassungsauftrag von 1919 endlich erfüllen – „Historische“ Staatsleistungen ablösen – sofort und ohne Bonuszahlungen

Beschluss BAG Säkulare Grüne 12. November 2022

Im Ampel-Koalitionsvertrag von 2021 ist als religionspolitisches Projekt für diese Legislaturperiode die Ablösung der „Historischen Staatsleistungen“ vereinbart. Damit soll endlich ein Verfassungsauftrag aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 umgesetzt werden. In den bisherigen Diskussionen werden horrende Ablösesummen für die römisch-katholische und die evangelische Kirche gehandelt, so auch in einem Gesetzentwurf von Bündnis 90 / Die Grünen, FDP und Linken aus der vergangenen Legislaturperiode.

Dies stößt (nicht nur) bei den Säkularen Grünen auf Ablehnung. Wurden einerseits diese Leistungen über mehr als 100 Jahre nach dem Ablösebefehl erbracht – somit schon viel zu viel – so gebietet es die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Situation andererseits unnütze Ausgaben einzusparen. Damit beschäftigt sich der im folgenden veröffentlichte Beschluss der BAG Säkulare Grüne, der in Zeiten der Not als Zeichen der Solidarität und als Akt der viel beschworenen Nächstenliebe zudem fordert, dass die Kirchen freiwillig auf die staatlichen Leistungen verzichtet, damit sie der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden können und den ärmeren Menschen in Deutschland nützen.

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Beschluss BAG Säkulare Grüne 12. November 2022

Ende der Staatsleistungen – sofort und ohne Bonuszahlungen

  1. Verhandlungen über Staatsleistungen: Der Kirchenbasar ist eröffnet

Deutschland steht vor einem Winter unter kriegsbedingten Belastungen mit enormen außen- und innenpolitischen Herausforderungen. Die Menschen fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz. Viele wissen nicht, wie sie ihre Lebensmittel bezahlen und ihre Wohnung heizen können. Teilen des Mittelstands droht ein finanzieller Kollaps. Da ist bundesweite Solidarität gefordert. Aber welchen Beitrag leisten hier die großen Kirchen? Ein Blick auf die vielfältigen staatlichen Zahlungen offenbart eine große Leerstelle: Keine Solidarität!

Gerade angesichts der aktuellen Lage sind ungerechtfertigte Zahlungen an die Kirchen ein Fremdkörper und ein öffentliches Ärgernis.

Bis heute zahlen die meisten Bundesländer Jahr für Jahr Millionenbeträge an die römisch-katholischen Bistümer und evangelischen Landeskirchen als Entschädigung für angebliche oder tatsächlich entgangene Erträge aus ihren Besitzungen vor dem Jahr 1803. Allein für das Jahr 2022 beliefen sich diese Zahlungen auf 602 Millionen Euro.

„Historische“ Staatsleistungen sind die Zahlungen der Bundesländer, die auf (historischen) Gesetzen, Verträgen oder besonderen Rechtstiteln im Sinn von Art. 138 Abs. 1 der Weimarer Verfassung vom 14. August 1919 beruhen. Es geht also nicht um Kirchensteuer oder um die fast kostendeckenden Zuschüsse des Staates zu konfessionellen Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen.

Nicht darunter fallen solche Leistungen, die insbesondere auf der Grundlage wirkssamer Ablösungsvereinbarungen ihr Ende gefunden haben. Keine historischen Staatsleistungen sind auch solche, die erst nach dem Stichtag (14. August 1919) ausdrücklich neu begründet wurden. Nur“ diese „historischen“ Staatsleistungen sollen nach Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 138 Abs. 1 Weimarer Verfassung abgelöst, d.h. beendet werden. Dieser Verfassungsauftrag wird seit über 100 Jahren bis heute beständig missachtet.

Um die „historischen“ Staatsleistungen endlich abzulösen, muss der Bund ein Rahmengesetz formulieren, das die Grundsätze dieser Ablösung festlegt. Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP strebt eine solche Ablösung an.

Unberührt von der verfassungsrechtlich gebotenen Ablösung der historischen Staatsleistungen sind insbesondere Leistungen an die verschiedenen jüdischen Kultusgemeinden. Sie sind Ausdruck einer besonderen deutschen historischen Verantwortung und sollen unangetastet bleiben.

2. Die Ablösung der „historischen“ Staatsleistungen

Inder vergangenen Wahlperiode gab es für die Ablösung – endlich – einen ersten Anlauf der damaligen Oppositionsfraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen (Bundestags-Drucksache 19/19273). Er sah viel zu hohe Ablösesummen für die Kirchen vor, die sich auf bis zu 10 Milliarden Euro belaufen sollten. Diese Kosten wären von den Bundesländern zu tragen gewesen. Wenn die Finanzkraft der einzelnen Länder nicht eine finanzielle Ablösung auf einen Schlag oder in wenigen Raten gestatten würde, sollte sich der gesamte Auszahlungsprozess dann über einen Zeitraum von nicht weniger als 20 Jahren erstrecken. In dieser Phase sollten die laufenden Zahlungen zusätzlich zur Ablösesumme jährlich weitergezahlt werden. Obwohl der Entwurf sehr kirchenfreundlich war, scheiterte er im Bundestag. Er war zwar ein wichtiger Impuls für die Erfüllung des Verfassungsauftrags, taugt aber nicht als Blaupause für das Gesetz, das die Koalitionsfraktionen in Aussicht gestellt haben.

Die BAG Säkulare Grüne bewegt die begründete Sorge, dass die Bundesregierung im Zuge der laufenden Beratungen zugunsten der großen christlichen Kirchen den Ländern und den Steuerzahler*innen neue Lasten aufbürdet. Es ist unverständlich, dass die Öffentlichkeit ebenso wie säkulare Verbände aus den Beratungen systematisch ausgegrenzt werden. Angesichts einer derart intransparenten Abgeschiedenheit dürften am Ende die mit den Kirchen getroffenen Vereinbarungen noch deutlich hinter das zurückfallen, was ihnen im damaligen Oppositionsentwurf bereits zugestanden wurde.

3. „Historische Staatsleistungen“: rechtlich und moralisch aus der Zeit gefallen

Die im Raum stehenden Ablösesummen für die Kirchen im Rahmen des versprochenen Bundesgesetzes sind historisch inzwischen abwegig, rechtlich problematisch und ethisch sogar gänzlich unangemessen.   

Es ist abwegig und nicht mehr vermittelbar, den Zustand von 1919 heute als „Normalstand“ zu unterstellen und das seitdem verflossene Jahrhundert mit einem Weltkrieg, zwei Inflationen, der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung schlicht zu ignorieren. Schließlich konnte der Verfassungsgesetzgeber 1919 mit seiner Ablösungsverpflichtung nicht ahnen, dass die Länder nach über 100 Jahren immer noch zahlen.

Während der Verfassungsberatungen 1919 waren die Staatsleistungen hochumstritten gewesen. Die mit ihnen verbundenen Abgrenzungsprobleme gehören bis heute zu den Streitpunkten.

Von den Vermögensverschiebungen im Zuge der Napoleonischen Kriege war vor allem katholischer Besitz betroffen. Die evangelischen Kirchen waren 1803 hingegen weniger von Vermögensverlusten betroffen und wurden später aus Paritätsgründen ebenfalls mit Staatsleistungen bedacht. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Eine schlüssige Auflistung und Berechnung der Vermögenswerte gibt es bis heute nicht einmal in Ansätzen. Genau wegen dieser dubiosen Faktenlage wollten die Weimarer Verfassung in ihrem Artikel 138 Abs. 1 und später das Grundgesetz diesen Zustand schnellstmöglich beenden. Im Jahr 1919 war es den Parlamentariern darum gegangen, nach der Trennung von Staat und Kirche durch das Ende des Kaiserreichs den Kirchen vorübergehend eine „Starthilfe“ zu gewähren. Statt der geforderten Ablösung fand jedoch eine hundertjährige Weiterzahlung und kontinuierliche Erhöhung der Leistungen statt. Insofern vertreten wir gemeinsam mit dem Bündnis „BASTA“ die Auffassung, dass die Ablösung und somit die Kompensation etwaiger Ansprüche nach 100 Jahren Daueralimentierung längst erfolgt ist.

Die bis heute fortwährende Zahlung von „historischen“ Staatsleisten an die beiden großen christlichen Kirchen perpetuiert die abgeschaffte Allianz von Thron und Altar, die mit der Weimarer Verfassung 1919 eigentlich beendet sein sollte. Diese Allianz hatte dem Staat zuvor die dringend benötigte religiöse Legitimität verschafft, während die weltliche Obrigkeit den Kirchen Steuerfreiheit und zahllose andere materielle Privilegien gewährte. Zudem waren im „alten“, 1806 aufgelösten deutschen Reich Bischöfe auch Landesherren und damit unmittelbar Bestandteil der feudalen Ordnung gewesen. Angesichts dieser Sonderstellung wuchsen die Kirchen mit ihren zahlreichen Gliederungen zu den größten Grundbesitzern im Land heran.

Mit dieser Patronage aus der Zeit der überwundenen Monarchien in Deutschland wollte die Weimarer Verfassung mit ihrer Ablösungsverpflichtung endlich „reinen Tisch“ machen. Dank ihres geschickten Lobbyismus konnten die Kirchen die Umsetzung dieses Verfassungsauftrags bis heute hintertreiben.

4. Ablösung steht auf der politischen Agenda

Angesichts ihrer dubiosen Grundlagen sollten daher die Zahlungen von 602 Millionen Euro allein im vergangenen Jahr in den kommenden Jahren auf entschlossenen gesellschaftlichen Widerstand stoßen. Spätestens jetzt sollte unter die ohnehin ungerechtfertigten Sonderzahlungen an die Kirchen ein endgültiger Schlussstrich gezogen werden.

Sollte nach all den Erfahrungen vergangener Jahrzehnte die Bereitschaft der Kirchen auf einen freiwilligen Verzicht ausbleiben, sind die öffentlichen Hände aufgefordert, aus dieser Verweigerungshaltung Konsequenzen zu ziehen. Alles andere würde in der Öffentlichkeit als Politikversagen gedeutet. So sollten die vielen „freiwilligen“ Leistungen an die Kirchen wie die großzügige Subventionierung ihrer Kirchentage durch Bund, Länder und Gemeinden bis zur Höhe der zu zahlenden historischen Staatsleistungen eingestellt werden und somit „verrechnet“ werden.

Die großen Kirchen sollten sich daher überlegen, von sich aus einen Verzicht in eigener Sache als Solidaritätsbeitrag zu leisten. Überzogenes Anspruchsdenken ist jedenfalls gerade in diesen Zeiten strukturell rücksichtslos und ist ein schlechter Wegweiser.

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