In zwei grundlegenden Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht am vergangenen Mittwoch deutlich gemacht, dass religiöse Auffassungen und elterliches Erziehungsrecht nur in ganz besonders gelagerten einzelnen Ausnahmefällen Vorrang vor dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag haben können. In jeweils dritter Instanz hatte das Bundesverwaltungsgericht über die Klagen eines den Zeugen Jehovas angehörigen Schülers und einer strenggläubigen muslimischen Schülerin auf Unterrichtsbefreiung zu entscheiden, in einem Fall auf Befreiung von der Teilnahme an einer Vorführung des Films „Krabat“, im anderen von der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht.
Auch wenn von den Entscheidungen jeweils nur absolute Minderheiten von christlichen und muslimischen SchülerInnen betroffen sind, sind mit den Revisionsentscheidungen allgemein die Weichen auch für die künftige rechtliche Behandlung von schulischen Sonderwünschen strenggläubiger Religiöser in die richtige Richtung gestellt. Die Forderung von Strenggläubigen, ihre Kinder mit von den Religionsgemeinschaften missbilligten Themen und Verhaltungsweisen nicht zu konfrontieren, ist grundsätzlich unbeachtlich.
Aus den beiden vorliegenden Pressemitteilungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 6 C 12.12 und BVerwG 6 C 25.12 ) seien vier wesentliche Gesichtspunkte sinngemäß hervorgehoben:
- Die Schule darf nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot, bei Ausgestaltung des Unterrichts Neutralität in religiöser Hinsicht zu wahren, verstoßen.
- Eine Unterrichtsbefreiung kann nur ausnahmsweise verlangt werden. Beeinträchtigungen religiöser Vorstellungen sind, sofern der Neutralitätsgrundsatz beachtet wurde, grundsätzlich als typische, von der Verfassung von vornherein einberechnete Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen. Regelmäßig ist hierfür erforderlich, dass den religiösen Belangen des Betroffenen eine besonders gravierende Beeinträchtigung droht und der schulische Wirkungsauftrag im Vergleich hierzu lediglich nachrangig berührt wird.
- Das Grundrecht der Glaubensfreiheit vermittelt grundsätzlich keinen Anspruch darauf, im Rahmen der Schule nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter – einschließlich solcher auf dem Gebiet der Bekleidung – konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten bzw. zu bestimmten Jahreszeiten im Alltag verbreitet sind. Die Schulpflicht steht nicht unter dem Vorbehalt, dass die Unterrichtsgestaltung die gesellschaftliche Realität in solchen Abschnitten ausblendet, die im Lichte individueller religiöser Vorstellungen als anstößig empfunden werden mögen.
- Das (hinsichtlich der Nichtteilnahme an der Filmvorführung) geltend gemachte religiöse Tabuisierungsgebot läuft der schulischen Aufgabe, die nachwachsende Generation vorbehaltlos und möglichst umfassend mit Wissensständen der Gemeinschaft und ihrem geistig-kulturellen Erbe vertraut zu machen, in ihrem Kern zuwider.
Die beiden Urteile stellen eindeutig klar, dass religiösen Überzeugungen der Eltern im Schulunterricht nur eine äußerst nachrangige Bedeutung zukommt, dass die SchülerInnen einen Anspruch darauf haben, in umfassender Weise mit dem aktuellen Stand des gesellschaftlichen Wissens vertraut gemacht zu werden und dass die Schule kein Raum ist, in dem religiöse Minderheiten verlangen dürfen, die gesellschaftlichen Realitäten auszublenden.
Walter Otte / 15.09.2013
Anmerkung:
Lesenswerte Artikel zu den Urteilen finden sich u.a. in der ZEIT „Religiöse Vorschriften haben im Unterricht nichts verloren“, der diesseits.de „Kindeswohl geht vor“ , dem hpd „Bildungsauftrag statt Religion“ und „Notwendige Klarstellungen“ sowie evangelisch.de .
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