Selbstbestimmung – was meinen wir damit? – In Europa


Debattenbeitrag zur Grundsatzakademie 2019 von Bündnis 90/Die Grünen: Das blind date zwischen BAG Europa und BAG Säkulare Grüne von Diana Siebert und Lino Klevesath

Thesenpapier von Diana Siebert und Lino Klevesath

11.6.2019

Die EU

Bei der Debatte um die Zukunft der EU und der EU-Erweiterung geht es neben wirtschaftlichen Fragen um Werte. Die in der EU vertraglich verankerten Werte sind Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der individuellen Menschen- und der Minderheitenrechte. Diesen Werten müssen sich sowohl die Mitgliedsstaaten als auch Beitritts­kandidaten verpflichten.

Die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000) verbrieften Rechte fanden sich zum großen Teil schon in der ERMK und der UN-Menschenrechtskonvention.

In dieser ist festgelegt, dass jedes Individuum seine Religion ablegen oder wechseln kann. Wir können dies ein Recht auf religiöse Selbstbestimmung nennen, klassisch als positive und negative Religionsfreiheit formuliert.

Die logische Schlussfolgerung, dass die Menschen und ihre Religionsgemeinschaften vor dem für alle geltenden Gesetz gleich sind, vollzieht die EU hingegen nicht (AEUV §17).

Absurderweise gibt es bei der Frage der EU-Erweiterung immer noch eine Debatte darüber, inwiefern die EU auf christlichen Werten basiert, wenn es um den Beitritt der Türkei oder auch Albaniens als muslimisch geprägte Länder geht. Ein beträchtlicher Teil der Konservativen und der Rechten betonen die sogenannte „christlich-jüdische“ oder „abendländische Tradition“ Europas. Ganz offensichtlich sind dies nicht einfach „Werte“, sondern die Vertreter*innen dieser diffusen Wertetheoreme wollen damit auch Einwanderung und EU-Staatsangehörigkeit begrenzen, insbesondere von Menschen muslimischen Glaubens.

Doch die Missachtung des staatlichen Gleichheitsgebotes geht tiefer. Denn in Griechenland, Malta, und Dänemark mit Grönland stehen die Staatskirchen in der Verfassung oder haben wie in Teilen des Vereinigten Königreiches (insbesondere England) einen privilegierten Status – siehe hierzu die Wikipedia-Übersicht über Staatskirchen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Staatskirche#/media/File:Map_of_state_religions.svg) .

Auch in vielen anderen Mitgliedsstaaten wie der Bundesrepublik gibt es eine Ungleichbehandlung von solchen Menschen, die einer anerkannten Religionsgemeinschaft angehören und solchen, die dies nicht tun. So werden etwa die Staatsleistungen in Millionenhöhe von allen steuerzahlenden Menschen in Deutschland finanziert – auch vielen Nicht-Christ*innen. Bis heute sind in vielen Bundesländern Kirchenaustrittsgebühren an den Staat zu entrichten, während die finanziellen Folgen eines ein Kircheneintritts zwischen Finanzämtern und Kirchen geregelt werden – für einen Staat, der sich zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, eine absurde Regelung.

Werden also die angesprochenen Werte überhaupt von den derzeitigen EU-Ländern eingehalten? In der Tat wäre es sehr interessant, hier einen Vergleich der 28 EU-Mitgliedsstaaten und anderer europäischer Länder vorzunehmen (und besonders die Beitrittskandidaten in den Blick zu nehmen). Dies betrifft nicht nur die Religionsverfassung, sondern auch die praktische Religionspolitik. Inwiefern wird sie dem Gebot der Neutralität und dem Wert der weltanschaulichen Selbstbe­stimmung gerecht? Die Frage der Verwirklichung dieser Werte kann nämlich als ein Lackmustest der Religionspolitik gesehen werden.

Selbstbestimmung

Weil bei den Workshops Grundsatzfragen wie zum Beispiel „Werte“ im Fokus stehen sollen, nehmen wir uns „Selbstbestimmung“ vor. Wir schauen uns ein paar europäische Länder an, um das Prinzip Selbstbestimmung zu beleuchten. Denn Selbstbestimmung ist in dem Zwischenbericht zum grünen Grundsatzprogramm

https://cms.gruene.de/uploads/documents/20190328_Zwischenbericht-Gruenes-Grundsatzprogramm.pdf

zu einem von fünf zentralen Werten (!) avanciert (neben Ökologie, Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden, was eine Erneuerung der ursprünglichen Quadriga ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei darstellt).

Da Selbstbestimmung also „neu“ in den grünen Olymp aufrückt, gilt es hier, die gesellschaftlichen politischen Bedingungen individueller Selbstbestimmung und Freiheit (unter anderem, aber nicht nur als Abwehr gegen übergriffige europäische Staaten) herauszuarbeiten. Sie muss sowohl von der „nationalen Selbstbestimmung“ (Ist dieser Begriff nicht ein Widerspruch in sich, weil eine Nation eine Großgruppe ist, die sich für eine Nation hält?) und der „Selbstbestimmung der Religions­gemeinschaften“ abgegrenzt werden. (In Deutschland reklamieren die Kirchen und sogar hohe deutsche Gerichte die „Selbstbestimmung“ für die Religionsgemeinschaften, ungeachtet der anders­lautenden Formulierung der Weimarer Reichsverfassung, die ins Grundgesetz übernommen wurde.)

Ein anderes Diskussionsfeld, mit welchem die BAG Säkulare Grüne und die BAG Europa zu tun haben, ist die Spannung zwischen individuellen Rechten einerseits („EIN Recht für alle“) und Gruppenrechten (und damit auch Minderheitenrechten) andererseits. Die EU und der Europarat mit seinem Menschenrechtsgerichtshof haben ständig mit diesem Spannungsfeld zu tun: Als Beispiel benennen wir die festen Quoten für die (übrigens nicht ethnisch, sondern religiös definierte) „griechische“ und „türkische“ Community in der Verfassung der Republik Zypern (Parlamentssitze sollen nach der Quote 70:30 vergeben werden, Posten bei der Polizei nach der Quote 60:40 usw., obwohl das Verhältnis der beiden Bevölkerungsgruppen vor der Okkupation Nordzyperns durch die türkischen Truppen 1974 etwa 80:20 betrug – die libanesische Verfassung lässt grüßen. Die Volksgruppenzugehörigkeit wird bis heute vererbt (und zwar über die männliche Linie)! Anders gelöst ist es in der Grenzregion zwischen Dänemark und Deutschland, wo jede(r) einzelne frei entscheiden kann, ob sie*er der jeweiligen Minderheit zugerechnet werden will oder nicht. Gibt es also ein Recht auf „nationale Selbstbestimmung“ der Individuen? Brauchen wir so etwas grund­sätzlich oder zumindest aus praktischen Gründen?

Allgemeiner formuliert ist dies die Frage, ob es „Affirmative Action“ (ein in den USA geprägter Begriff) für Angehörige von bestimmten allgemein als benachteiligt identifizierten Gruppen von Menschen geben soll (z.B. Frauenförderung, Förderung von Migrant*innen-Musikgruppen, feste Redebeiträge) oder nicht – und wenn ja, mit welchen Methoden und Maßnahmen eine solche Förderung verhindern kann, dass man bestimmte Stempel und Schubladen und das entsprechende Schubladen-Denken („Ihr und Wir“) fördert (oder ob sich das überhaupt nicht vermeiden lässt).

„Nationale Selbstbestimmung“, regionale Selbstbestimmung, Individuum und Staatsbürgerschaft

In Russland haben wir es mit Imperialbestrebungen oder doch -phantasien zu tun: Das politische Moskau und große Teile der russländischen Bevölkerung wie auch der Russ*innen außerhalb Russlands sind nicht gewillt, die Russische Föderation als einen Nationalstaat anzusehen, wie die Nachbarstaaten es auch sind. In dieser Situation wirkt eine „nationale Selbstbestimmung“ der Nachbarländer der Russländischen Föderation als sogar erfrischendes, antikoloniales Konzept. Dies verdeckt, dass ein Nationalismus nicht nur eine „Übertreibung“ des Konzepts der nationalen Selbstbestimmung ist, sondern darin integral angelegt ist und durch übernationale Institutionen wie die EU dann wiederum eingeschränkt wird. In Europa haben wir daher das Problem, dass die „alten“ Nationen es selbstverständlich finden, ein Nationalstaat zu sein, (und es oft aber gar nicht sind oder, wie im Falle Portugals, inzwischen sogar eher froh sind, ihre Kolonien bzw. die Reste ihres früheren Kolonialreiches losgeworden zu sein), während die vierzehn immer noch neuen, nach 1991 entstandenen Staaten (Estland, Lettland, Litauern, Belarus, Ukraine, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Kosovo, Moldau) sowie Polen – als zeitweilig deutsch-sowjetisch zerstörter Staat – schon fast unwillkürlich ein Mehr an EU-Integration als einen erneuten Versuch der Zerstörung der nationalen Selbstbestimmung und der Nation ansehen. Das gilt sogar für das 1821/1833 entstandene Griechenland. (Dies ist auch der Grund, warum auch in der EGP die Vertreter*innen der Mitgliedsparteien z.B. Zyperns und Maltas unter Selbstbestimmung zunächst „nationale“ Selbstbestimmung verstehen.)

Nationale Selbstbestimmung ist nichts Objektives, sondern ein politischer Begriff

Soweit, so bekannt, könnten wir denken, aber wir sollten dies immer mitdenken, wenn wir von der EU als einem Bundesstaat sprechen und festhalten, dass es für „nationale Selbstbestimmung“ keine objektiven Kriterien gibt. Da eine Nation eine Großgruppe ist, die sich für eine Nation hält, kann es keine objektive Messlatte dafür geben, was eine Nation ist (und übrigens auch keine festen Kriterien dafür, was eine politische Region ist, um den Regionalismus mit abzuräumen). Nationen definieren sich sprachlich, ethnisch, geografisch oder sogar religiös. Wer bestimmt, was eine Nation ist? Warum gehören viele Nachfahren von „Deutschen“ des 19. Jahrhunderts zu einer „österreichischen Nation“? Gilt das Ethnizitäts-, Religions-, das Territorialitäts- oder gar das dynastische Prinzip? Verträgt sich die Idee der nationalen Selbstbestimmung heute – im 21. Jahrhundert – überhaupt mit dem republikanischen Prinzip (also der Gleichbehandlung jeder Person ohne Ansehen der jeweiligen zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit)? Auch wenn es Belgier gibt, und die Schweizer Nation aus „Eidgenossen“ besteht, so ist doch deutlich, dass Nationen (und politische Regionen) im politisch-militärischen Handgemenge entstanden (und auch verschwunden) sind. Es geht also um Machtverhältnisse. Ist also „nationale Selbstbestimmung“ nur die Ablösung der alten Willkür durch eine neue (gewesen)?

Eine Selbstbestimmung in einem stärker integrierten EU-Europa bedeutet nicht nur eine stärkere Durchlässigkeit in der Frage der Staatsangehörigkeit, eine Selbstbestimmung der Wahl des Wohnortes. Es bedeutet eine Stärkung der individuellen Rechte und der aktiven Förderung der Individualität und mithin der freien Bildung von Assoziationen.

Zusammengefasst: Das grüne Projekt Bundesstaat Europa muss den antikolonialen Aspekt der „nationalen Selbstbestimmung“ in Rechnung stellen. Zugleich verweist es auf das Vertrackte und sogar Widersprüchliche der Idee der „nationalen Selbstbestimmung“ und fördert die Selbstbestimmung von Individuen und freien Kollektiven, zu denen sich Individuen selbstbestimmt zusammenschließen.

Religiöse Selbstbestimmung ist etwas anderes als das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften

Der Wert der Selbstbestimmung in Hinsicht auf Religionen und Religionsgemeinschaften bedeutet in einem säkularen Europa zunächst, dass jedes Individuum selbst bestimmen kann, ob es einer, und wenn ja, welcher Religion (und Konfession, also welcher Strömung innerhalb einer Religion) angehört und dass diese Entscheidung jeder Zeit verändert werden kann (indem Menschen die Religion wechseln oder aufgeben).

Dies ist nicht in jedem EU-Mitgliedsstaat verwirklicht. Die christlich-orthodoxen Kirchen haben wie die muslimischen Gemeinschaften den Anspruch, „für alle“ (universal, gr.: kath-oli-kos) zu sprechen, die wie die Umma (Gemeinschaft der muslimischen Gläubigen) nicht verlassen werden kann. Theoretisch denkt die pragmatische römisch-katholische Kirche auch so. Ein Staat, der die griechisch-orthodoxe Kirche als Staatskirche (Griechenland) oder als konstituierende Kirche von einer der zwei staatsbildenden Communities (Republik Zypern) beschreibt, hat entsprechend Schwierigkeiten mit der Entlassung von Menschen aus der jeweiligen Religionsgemeinschaft.

Lasst uns solche Fragen nicht als Herumkrittelei am schönen und großen Projekt Bundesstaat Europa betrachten, sondern als Beitrag zur Schärfung des grünen Wertes Selbstbestimmung.

In West- und Mitteleuropa sind evangelikale christliche Religionsgemeinschaften noch nicht so erstarkt wie außerhalb (insbesondere in Südamerika). Doch auch so sind die EU und ihre Mitgliedsstaaten plural. Es dürfte klar sein, dass ein Bundesstaat Europa sich ein klares Religions­verfassungsrecht geben sollte, welches Menschen unterschiedlicher Religion wie auch konfessions­freien Menschen keine Bevorzugung oder Benachteiligung angedeihen lassen darf. In diesem Zusammenhang ist wichtig, nicht nur die sogenannte „positive und negative Religionsfreiheit“ der Individuen zu europäisieren, sondern auch die sogenannte „kollektive Religionsfreiheit“ zu betrachten:

Evangelikale und Falun Gong

Kollektive Religionsfreiheit kann nur als etwas aus dem individuellen Recht auf religiöse Selbstbestimmung Abgeleitetes verstanden werden. Menschen haben das Recht, in den etablierten Religionsgemeinschaften zu verbleiben, sie zu verlassen oder aber aufgrund ihrer individuellen Wahl neue Gemeinschaften zu begründen. Gerade für neue Religionsgemeinschaften ist er besonders wichtig – ob für Evangelikale, für „Falun Gong“ oder andere Gruppen. Der Begriff meint also nicht eine Freiheit (bzw. einen Freibrief) für Religionsgemeinschaften zum Übertreten des für alle gültigen Gesetzes, geschweige denn eine Territorialautonomie, wie sie die „Mönchsrepublik“ auf der Halbinsel Chalkidiki in Griechenland bis heute beansprucht (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Athos), sondern das Recht, Religionsgemeinschaften zu bilden und bestehende zu pflegen und im öffentlichen Raum zu agieren. Dies ist besonders wichtig, weil sich die „Andersgläubigen“ und Atheisten selbst in EU-Ländern (aus traditionell guten Gründen) teilweise immer noch schwer von einer gewissen religiösen Kryptomanie trennen können.

Der Begriff kollektive Religionsfreiheit ist also im Lichte des grünen Wertes der (individuellen) Selbstbestimmung zu sehen. Eher im Gegensatz dazu steht das bisherige Religionsverfassungsrecht in vielen EU-Staaten. Die meisten Staaten erkennen (z.B. steuerrechtlich) an, dass die Kinder in bestimmte Religionsgemeinschaften wenn nicht direkt hineingeboren, so doch spätestens durch Taufe, Beschneidung und andere Handlungen von Religionsgemeinschaften in einem Lebensabschnitt einer Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt zugeordnet werden, in dem das Kind noch gar nicht über ausreichende Selbstbestimmungsfähigkeiten verfügt. Der grüne Wert der Selbstbestimmung wird hier karikiert und negiert. Egal, was die Eltern in den Religionsgemein­schaften selbst denken: Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollten die Zugehörigkeit von Menschen zu einer Religionsgemeinschaft entweder im Religionsverfassungsrecht vollkommen unbeachtet lassen oder erst durch aktiven, bewussten Eintritt besiegeln.

Selbstbestimmungsrecht“ der Religionsgemeinschaften – in Deutschland ein Kampfbegriff

Das grundgesetzlich garantierte, schon in der Verfassung von Weimar 1919 etablierte Recht auf „Selbstordnung und -verwaltung“ der „Religionsgesellschaften“ „in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ können wir historisch als Abschied von der Staatskirche lesen, in der Kaiser Wilhelm auch das Oberhaupt der preußischen evangelischen Landeskirche war (und eben auch als solcher 1918 in die Niederlande geflohen war), und allgemeiner als einen Abschied von staatlicher Bevormundung der religiösen Organisationen, wie sie auch für eine immer stärker integrierte EU gilt.

Doch inzwischen haben – mit Unterstützung der höchsten Rechtsprechung – die beiden großen Kirchen Deutschlands das „Selbstordnungs- und -verwaltungs“-Recht zu einem „Selbstbestim­mungsrecht“ verdreht, mit konkreten Auswirkungen auf das kirchliche Arbeitsrecht und andere Privilegien für anerkannte Religionsgemeinschaften. Auch die dadurch erzeugte Atmosphäre hat konkrete Folgen: Zwar haben die Staatsanwaltschaften eigentlich das Recht, Akten der katholischen Kirche zu beschlagnahmen, wenn ein Anfangsverdacht auf sexuellen Missbrauch durch eine*n Mitarbeiter*in vorliegt, doch haben sie Hemmungen, dies auch wirklich zu tun, und die Kirchen­organisation beruft sich auf dieses sogenannte Selbstbestimmungsrecht.

Ein EU-Religionsverfassungsrecht sollte den grünen Wert der Selbstbestimmung im Sinn des „EINEN Rechts für alle“ als Grundlage haben, bei dem bei einer religiösen Selbstbestimmung ein barrierefreies Wechseln, Annehmen und Ablegen von Religionen und die WAHL der Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften im Mittelpunkt steht. Kurzum: Wir streben eine EU an, die das „Selber denken!“ (Motto der Kölner kritisch-katholischen Karl-Rahner-Akademie) fördert.

Zwischenfazit

Der Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm hat den Begriff („Wert“) Selbstbestimmung zentral etabliert. Der Entwurf hat einen klaren Kompass der Grünen als Freiheitspartei eben im Sinne von Freiheit als Selbstbestimmung in Solidarität (und nicht als Wirtschaftsliberalismus und nicht als Freiheit von allem und jedem). Dies geht mit den Beschlüssen der BAG Säkulare Grüne in Einklang, weil es als individuelle und gleichzeitig universelle Selbstbestimmung durchdekliniert ist. Wir sind hingegen gegen „Gruppen“-Selbstbestimmung eingestellt, weil wir meinen, dass eine moderne und vor allem OFFENE Gesellschaft keine Gemeinschaft von Gemeinschaften, keine Gesellschaft von Gesellschaften sein sollte – schon gar nicht eine, in die Menschen hineingeboren werden (In Deutschland werden Kinder von evangelischen Eltern nach unbewusst vollzogenen Taufe automatisch ebenfalls als evangelisch gezählt, in Zypern Kinder von „Türken“ ebenfalls als „Türken“). Stattdessen wollen wir eine Gesellschaft mit starken Rechten der Individuen (Männer, Frauen*, Kinder, eben alle) sowohl gegen Übergriffe des Staates (Überwältigungsverbot), als auch gegen konstruierte oder angeblich angeborene Gemeinschaften. Der grüne Begriff von Vielfalt meint keine Mischung vielfältiger Leitkulturen, egal ob diese sich gegenseitig verstärken, aufheben oder ergänzen. Selbstbestimmung meint unter anderem ganz im Gegenteil, Gruppen welcher Art auch immer frei wählen zu können, also kurz: eine EU für individuelle Selbstbestimmung, gegen Korporatismus und Sonderrechte für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.

 

Praktische Umsetzung in der EU

1. Vertiefung

Die EU mischt sich nach AEUV §17 nicht in die (derzeit sehr unterschiedliche) Religionspolitik der Mitgliedsstaaten ein. Doch wenn wir, Bündnis 90/Die Grünen, einen Bundesstaat Europa zum Ziel haben, dann kann das nicht so bleiben. Die EU braucht dann künftig in ihrer Verfassung Bestimmungen, innerhalb derer die verschiedenen Religionsgemeinschaften sich im Rahmen des für alle gültigen Gesetzes organisieren, und die sicherstellt, dass die Menschen unterschiedlicher Religion und ohne Religion volle Gleichheit vor dem Gesetz haben. Eine Diskussion um die Verankerung des Prinzips der Trennung von Religion und Staat in der ganzen EU bringt harte politische Auseinandersetzungen mit sich: So könnte dann die „Autonome Mönchsrepublik Heiliger Berg“ dann keine staatliche Autonomie mehr beanspruchen. Mehrere andere Beispiele können dies verdeutlichen:

Beispiel Schulunterricht

Wir begrüßen, dass noch der ärmste Staat bestrebt ist, ALLEN Kindern in seinem Territorium eine schulische Grundbildung mit Schulpflicht zu finanzieren. Dies sollte dann aber auch für Fächer gelten, in denen Philosophie (darunter Ethik) und Religionskunde gelehrt wird. Das bedeutet: Die an staatlichen, öffentlichen Schulen erfolgende Durchführung des konfessionsgebundenen Reli­gionsunterricht, womöglich noch mit versetzungsrelevanter Benotung, an dem Unreligiöse weder teilnehmen dürfen noch wollen, widerspricht den demokratischen Werten und darüber hinaus dem Wert der individuellen Selbstbestimmung. (Anmerkung: Das Thema Schulunterricht wird in einer eigenen Konferenz mehrerer BAGen im Oktober abgedeckt, allerdings nur für die Bundesrepublik und ihre Bundesländer).

Beispiel Kirchenfinanzen

Ein weiteres Beispiel sind die Kirchenfinanzen. Das deutsche Recht ermöglicht ein staatliches Einziehen einer steuermindernd geltend machbaren „Kirchensteuer“, wie es es in kaum einem anderen europäischen Land (innerhalb und außerhalb der EU) gibt. Das deutsche „Modell“ liegt hier in etwa in der Mitte zwischen einerseits den Ländern wie Griechenland, Russland oder Belarus, in denen die Staatskirchen und andere anerkannte Religionsgemeinschaften aus dem allgemeinen Staatshaushalt finanziert werden (und damit auch von un- und andersreligiösen Steuerzahler*innen) und andererseits den Ländern, in denen die Religionsgemeinschaften keinerlei Privilegien haben, egal ob es dort viele (Portugal) oder wenige (Frankreich) aktive Gläubige gibt.

Beispiel Antidiskriminierungsgebot

Drittes Beispiel: Die EU (insbesondere der Europäische Gerichtshof) hat sich in Vergangenheit und Gegenwart insbesondere aufgrund des Antidikriminierungsgebots in das „kirchliche Arbeitsrecht“ eingemischt und speziell Deutschland die Leviten gelesen, weil hier durch §9 AGG und §118,2 Betriebsverfassungsgesetz die Kirchen und anderen anerkannten Religionsgemeinschaften das Recht haben (oder in Anspruch nehmen), Leute zu kündigen oder nicht einzustellen, in denen es sogenannte Tendenzbetriebe (wie etwa Parteien) nicht haben. Unseres Wissens sind aber nur in Deutschland die Kirchen derart bedeutsame Arbeitgeberinnen, die in der Bundesrepublik über eine Millionen Arbeitnehmer*innen beschäftigen (nur bei der öffentlichen Hand arbeiten noch mehr Menschen). (Anmerkung: Dieses Thema wird in Werbellin in einem Crossover-Workshop behandelt – zwar (nur) auf Deutschland bezogen, aber EU-Recht betreffend).

2. EU-Erweiterung

Es gibt die grundsätzliche Frage, ob sich nicht nur die EU-Mitgliedstaaten, sondern die EU selbst als (krypto-)christlich definieren sollte; oder besser: unsere grüne Analyse der Tatsache, dass dies versucht wurde und noch immer wird. Es ist auffällig, dass (zum Teil nur angeblich!) muslimisch geprägte Länder wie Albanien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina und die Türkei größere Schwierigkeiten hatten und haben, EU-Beitrittskandidatin oder -Mitglied zu werden als vermeint­lich christlich geprägte wie Bulgarien und Rumänien. Die heftige Debatte um die Präambel des Vertrags

(https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:12012E/TXT&from=DE)

von Lissabon (dieses Aushilfsvertrags nach dem Scheitern der EU-Verfassung nach der Abstim­mung der ach so progressiven Bevölkerung in Frankreich und den Niederlanden) hat gezeigt, dass es tatsächlich starke Befürworter*innen eines „christlichen“ oder doch an „Gott“ appellierenden EU-Volkes gab und gibt. Wir haben als BAG Säkulare Grüne die Position, dass sich EU und Europarat weder als christlich noch als „multireligiös“ definieren sollten. Als selbstverständlich sehen wir an, dass die genannten (angeblich) muslimisch geprägten Länder nicht umgekehrt deshalb in die EU aufgenommen werden sollen, „DAMIT auch mal ein muslimisch geprägtes Land EU-Mitgliedsstaat wird“, wie es in der zweiten Hälfte der Nuller-Jahre noch in der BAG Europa hier und da vertreten wurde. Die genannten Werte der EU lassen nur eine Schlussfolgerung zu: EU-Mitglied soll nur dann ein Staat werden können, wenn es dort „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenrechte §18) gibt (also die derzeitige Türkei NICHT, Albanien, Kosovo und Bosnien-Herzegovina aber durchaus). Und „Religionsfreiheit gibt es nur in einem säkularen Staat“ (Bettina Jarasch).

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